Teil 4 |
Kindheit und Leben im Kloster
Ich bin Tibeter. Ich wurde 1968 in einem kleinen Dorf von 265 Einwohnern namens Gyepa, das sehr nahe bei dem Kloster Ganden und nicht weit von Lhasa liegt, geboren. Es gehört zur Gemeinde Tsangdo im Kreis Taktse.
Mein Vater heißt Dawa und meine Mutter Kelsang Choedron. Ich habe zwei Schwestern und einen Bruder. Meine jüngere Schwester Penpa wurde um 1970 geboren. Zwischen ihr und der Geburt meiner nächsten Schwester gab es eine weitere, die mit 3 Jahren starb. Meine jüngste Schwester ist die 1972 geborene Dolma. Mein Bruder Phurbu Tsering wurde etwa 1978 geboren.
Unsere Familie ist eine Bauernfamilie. Zur Zeit meiner Geburt befanden sich meine Eltern in einer so schwierigen Lage, daß sie sogar um tsampa betteln mußten. Als ich 18 Jahre alt war, hatte sich die Lage ein wenig gebessert, aber wir waren noch längst nicht sorgenfrei.
Im November 1985 entschloß ich mich, Mönch zu werden. Der Wunsch, diesen Schritt zu tun, kam plötzlich in mir auf, aber ich wußte, daß er eine Verbesserung im Vergleich zu den so schwierigen Verhältnissen zu Hause sein würde. Ich sprach mit meinen Eltern, und sie waren glücklich über meine Entscheidung.
Bald danach gingen mein Vater und ich nach Ganden. Dort sprachen wir mit dem Abt Lobsang Tenzin, der mein Lehrer werden sollte. Zu jener Zeit wurden die Lehrer von den Chinesen gezwungen, ihre Schüler davon abzuhalten, bei Demonstrationen mitzumachen. Daher mußte er dafür bürgen, daß ich keinen Aktivitäten gegen die Obrigkeit nachgehen und mich an alle Verordnungen der chinesischen Regierung halten würde. Es gab auch ein Büro der Chinesen für Religiöse Belange, wohin ich gehen und die Erlaubnis einholen mußte, Mönch werden zu dürfen. Das nahm 4 Monate in Anspruch. Das Büro gehörte zu dem chinesischen Verwaltungsapparat in der Nähe des Klosters Ganden. Dort stellte man mir Fragen über die monastische Disziplin und fragte, ob ich mich an Aktivitäten gegen die Regierung beteiligen würde. Ich sagte, daß ich nichts von solchen Dingen wüßte und mich gerne an die Regeln halten würde. Ich war damals noch jung und sehr begierig, Mönch zu werden.
Etwa im März 1986 kam die Erlaubnis für mich, Mönch zu werden, und bald nach dem tibetischen Neujahr trug ich zum ersten Mal die Mönchsrobe. Das erste Jahr war für mich eine Zeit der Umwälzung. Durch die Schriften, die ich las, erfuhr ich etwas über Tibet und wurde seiner politischen Situation gewahr. Ich begann die Besonderheiten meiner Kultur zu verstehen und erfuhr, wie die tibetische Gesellschaft früher gewesen war.
Im Juli 1987 las ich die Autobiographie S.H. des Dalai Lama "Mein Land und mein Volk", ein Buch, das ich von zwei amerikanischen Touristen, die das Kloster besuchten, bekommen hatte. Wir durften dieses Buch nicht offen lesen, und wer damit ertappt wurde, kam direkt ins Gefängnis. Ich las es heimlich in meinem Zimmer, zog den Vorhang vors Fenster und schloß die Tür von innen ab. Die ganze Nacht über las ich im Schein einer Kerze.
Aus diesem Buch und aus den heiligen Schriften erkannte ich, daß die Tibeter unter der chinesischen Herrschaft keine Menschenrechte besitzen. Mir wurde auch klar, daß es meine Pflicht war als Mönch, der keine Verantwortung für eine Frau oder Kinder trägt, etwas für Tibet zu unternehmen, selbst wenn ich dabei mein Leben opfern müßte. Noch in derselben Nacht schrieb ich einen Brief auf Tibetisch, in dem ich andere Länder ersuchte, den tibetischen Kampf um Unabhängigkeit und Menschenrechte zu unterstützen. Ich schlug diesen im Kloster und in dem chinesischen Büro in meinem Dorf an. Ich lernte auch, wie man Ausländer auf Englisch fragt, aus welchem Land sie kommen, und am nächsten Tag ging ich zu dem Norbu Ri, wo die Touristen immer Photos machen. Dort gab ich meinen Brief zwei amerikanischen Touristen.
Damals sprach ich mit niemandem über diese Dinge. Keiner hätte auch gewagt, solche Gespräche zu führen. Aber noch ehe ich dieser Umstände richtig bewußt wurde, hatte ich bemerkt, daß einige Mönche Beziehungen zu Leuten von außerhalb aufgebaut hatten, von denen sie gewisse Informationen bekamen.
Als ich in Ganden eintrat, lebten dort 245 Mönche; auch gab es ein Büro der chinesischen Religionsbehörde mit einem Chinesen und zwei Mönchen vom Kloster, deren Aufgabe es war, uns zu überwachen. Seit meinem Eintritt nahm die Anzahl der neu zugelassenen Mönche allmählich ab. Zu meiner Zeit wohnten etwa 40 neu aufgenommene Novizen in dem Kloster. Von da an nahm ihre Zahl jedes Jahr rapide ab, und heutzutage werden überhaupt keine neuen Mönche mehr zugelassen. Mönche gelten den Chinesen als die Haupttriebkraft für Unabhängigkeitsdemonstrationen, weshalb sie großen Argwohn gegen sie hegen. So mußten nach den Protesten von 1987/88 alle Bewohner Ganden verlassen- einige kamen ins Gefängnis, einige wurden ausgewiesen und einige verließen das Land.
Nachdem ich das Buch Seiner Heiligkeit gelesen und meinen Brief den Amerikanern übergeben hatte, unternahm ich lange Zeit nichts mehr in dieser Sache. Das Buch hatte eine mächtige und packende Wirkung auf mich und wurde allmählich zu meinem kostbarsten Schatz. Ich war in einer entlegenen Gegend aufgewachsen, weshalb ich mir bisher dieser Probleme nur sehr wenig bewußt war. Erst jetzt wurde mir zum Beispiel klar, warum damals in meiner Heimat die Eltern Probleme bekamen, wenn ihre Kinder dabei ertappt wurden, wie sie irgend etwas sagten, was der offiziellen Linie der Chinesen widersprach. Kinder konnten etwa sagen, daß sie um tsampa betteln mußten, aber sie durften den Grund nicht nennen, nämlich daß sie am Verhungern und ihre Eltern in finanzieller Bedrängnis waren. Seit jener Zeit las ich viele der Bücher, die meine Eltern lesen mußten, als ich klein war. Sie enthielten genaue Regeln darüber, was den Chinesen als gutes und schlechtes Benehmen galt, sowie die Strafen für Verstöße gegen diesen Verhaltenskodex.
Am 27. September 1987 zogen Mönche aus dem Drepung Kloster bei Lhasa aus, um gegen die Chinesen zu demonstrieren. Vier Tage später, am 1. Oktober, folgte eine weitere Demonstration, die von Mönchen aus dem Kloster Sera angeführt wurde. In Ganden hörten die Mönche in den chinesischen Nachrichten von diesen Protesten und fühlten sich ebenfalls inspiriert. Wir planten unseren Aufstand fünf Monate später, für den 5. März. Am Abend des 2. Oktober 1987 schickten die Chinesen 6 bis 7 Lastwagen mit je 50 bis 60 Kadern zum Kloster Ganden. Die Chinesen wählten zu diesem Zweck bei der Polizei beschäftigte Tibeter aus, da sie meinten, die Mönche würden eher auf sie hören. Aber wir wußten, wer diese Leute waren, und als sie uns lautstark ermahnten, uns ja nicht an den Unabhängigkeitsbekundungen zu beteiligen, schenkten wir ihnen kein Gehör. Wir waren so aufgebracht, daß wir Steine auf ihre Fahrzeuge warfen, damit sie nicht ins Kloster fahren sollten. Als sie wegfuhren, schrien sie uns immer noch ihre Ratschläge und Drohworte zu. Sie fuhren direkt zu dem Amt für religiöse Angelegenheiten, vermutlich, um militärischen Beistand zu holen.
Am nächsten Tag kamen sie zurück, diesmal mit 20 Lastwagen voller Militär. Es waren spezielle Fahrzeuge mit je 60 Soldaten und bestückt mit Waffen, Maschinengewehren und speziell zur Mißhandlung von Menschen konstruierten Metallruten. Sie trugen Uniformen und Helme. Wegen dieses Militäraufgebotes konnten die 50 oder 60 Kader nun ungehindert das Kloster Ganden betreten und über Nacht bleiben. Auch nachdem die Soldaten wieder abgefahren waren, blieben diese Staatsdiener die ganzen Wintermonate über und benahmen sich sehr ungebührlich. Sie tranken, machten einen Saustall aus unserem Kloster und erschossen unsere Hunde mit ihren Pistolen. Etwa zwei oder drei Tage nach ihrem Eindringen wurden alle Mönche zu einem Meeting gerufen, wo uns erklärt wurde, daß Mönche von Drepung und Sera an reaktionären Aktivitäten beteiligt gewesen wären, die dem Land schadeten, und daß die Mönche von Ganden bei nichts dergleichen mitmachen dürften. Bei der ersten Versammlung verteilten die Kader Zeitungen, die sie uns zu lesen befahlen, und kündigten an, daß in zwei bis drei Tagen Fragen über das in diesen Zeitungen Geschriebene an uns gestellt würden. In ihnen stand, wie gut die kommunistische Partei ist, und daß sie uns religiöse Freiheit und Geld zur Führung der Klöster gegeben hätte. Die Zeitungen mahnten, daß wir die "Separatisten" auslöschen müßten und daß Tibet und China wie Mutter und Sohn ein Land seien und daß sie niemals voneinander getrennt werden könnten.
Es gab etwa 20 Zusammenkünfte von dieser Sorte. Einige Mönche sagten, daß sie nichts von dieser ganzen Sache und dem Kampf für ein unabhängiges Tibet wüßten. Die Kader wußten nicht recht, was sie darauf antworten sollten und fragten dann, was denn unsere Erwartungen seien. Wir antworteten, daß wir möchten, daß die Chinesen die religiöse Freiheit, die sie uns zugesagt haben, auch realisieren werden. Dann erkundigten wir uns nach der sakralen Gold-Thangka und den Schriften, die vor vielen Jahren aus dem Kloster Ganden weggeschleppt worden waren und die nun von den Chinesen in Lhasa aufbewahrt wurden. Als Bestechung und um uns Religionsfreiheit vorzutäuschen, brachten die Chinesen diese Gegenstände tatsächlich zurück. Sie gaben den jüngeren Mönchen auch Geldscheine in der Hoffnung, sie auf diese Weise ruhig zu halten und der chinesischen Regierung gefügig zu machen.
Trotz dieser Bemühungen merkten die Offiziellen bald, daß unsere Solidarität wuchs. Als sie uns erklärten, wie gütig doch die kommunistische Partei sei, erwiderten die Mönche, Religionsfreiheit bedeute nicht nur, daß man Mantras rezitieren, Opfergaben darbringen und Mönchsgemeinschaften wiederaufbauen darf. Wir wiesen darauf hin, daß die Chinesen viele Klöster zerstört und wie in unserem daraus die geheiligten und kostbaren Kunstgegenstände gestohlen hätten und erklärten, die kommunistische Partei habe überhaupt keinen Grund, auf dieses Verhalten stolz zu sein. Wir sagten, wir wollten die Einhaltung der Menschenrechte und daß die Chinesen nach China zurückkehrten.
Daraufhin begannen die Kader, uns in kleinere Gruppen aufzuteilen. In dieser Zeit war es, daß meine Wut auf die Chinesen so richtig wuchs. Jetzt hörte ich auch zum ersten Mal die Meinungen anderer Leute zu diesem Thema. Für viele von uns bedeutete dies unser politisches Erwachen, und von da an gab es geheime Zusammenkünfte von einzelnen Gruppen von 2 - 3 Mönchen.
Ich weiß nicht, ob irgendeiner der Mönche damals unser Verhalten den Chinesen hintertrug. Ich weiß jedoch, daß sich eine Gruppe von Mönchen bildete, die für die Unabhängigkeit waren, und daß viele Mönche den Veranstaltungen der Parteileute der Chinesen fernblieben. Ich schloß mich der Gruppe jedoch nicht an, weil ich viele Gefahren auf uns zukommen sah. Und es gab auch viele andere Mönche, die nicht hingingen, weshalb sie nicht lange bestehen blieb. Ich denke, die Mönche von Drepung und Sera waren zu jener Zeit besser auf dem laufenden als wir, da sie näher an Lhasa wohnten, wo die Unabhängigkeitsproteste stattfanden.
Im Winter 1987 kündigten die Chinesen an, daß sie einen Polizeiposten für 20 bis 40 Milizionäre und dann auch noch ein Gefängnis direkt neben dem Kloster bauen wollten. Als das Polizeipersonal zu diesem Zweck eintraf, versammelten sich alle Mönche und argumentierten mit ihnen wegen dieser Vorhaben. Die Mönche erklärten der Polizei: Wenn sie diese Bauten errichten würden, dann könnten sie auch gleich die Klosterschlüssel haben, weil wir dann nach Hause gehen würden. Wir waren so aufgebracht, daß wir das Fernmeldesystem im Büro der Chinesen in unserem Kloster kaputt machten. Die Spannung war so hoch, daß es beinahe zu physischen Gewaltanwendungen gekommen wäre. Nachdem wir an diesem Abend auseinander gingen, trafen etwa 20 Lastwagen voll Militär ein. Wir hörten, daß weitere sechs in einem nahegelegenen Tal und noch einmal 14 weiter weg in Stellung warteten. Diese 20 Lastwagen, auf denen 30 bis 40 große Maschinengewehre sowie Mörser und kleine Maschinengewehre waren, wurden rund um Ganden herum stationiert.
In jener Nacht sollten wir eigentlich unsere religiösen Debatten führen, aber statt dessen wurden wir von den Kadern in unsere Zimmer zurückgetrieben unter Androhung von Tod und Gefängnis, falls wir die Debatten abhielten. Irgendwann in der Nacht kamen Soldaten, um uns zu fragen, ob sie etwas Feuer von uns bekommen könnten. Wir antworteten, wir hätten gehört, wie großzügig die kommunistische Partei sei und schlugen ihnen daher vor, sich an sie zu wenden. Am nächsten Morgen fuhren alle Soldaten wieder ab; später begriffen wir, daß sie uns einschüchtern wollten, um weitere Unruhen zu verhindern. Sie erzählten uns nämlich, die Mönche von Drepung und Sera seien bereits eingesperrt und uns drohe eben solch eine "Unterkunft", falls wir noch mehr Unruhe stiften würden.
Im Januar und Februar 1988 hielten die Kommunisten Sitzungen zur Planung des Tibetischen Monlam (Großes Gebetsfest) ab, das im März in Lhasa stattfinden sollte. Indem sie uns verschiedene Belohnungen in Aussicht stellten, wollten sie uns zur Teilnahme bewegen. Wir widersetzten uns aber und wollten nicht hingehen. Wenn sie so sehr erpicht darauf seien, das Monlam Fest zu feiern, dann könnten die kommunistischen Kader es ja selbst durchführen, war unser Argument. Wir hätten auch im Radio gehört, daß es in Tibet Religionsfreiheit gebe. Wir fragten, warum sie denn nicht wirklich Religionsfreiheit zuließen und mit ihren Waffen herumfuchtelten und Militäruniformen trügen. Da brachten sie plötzlich gute Fahrzeuge für die Reise nach Lhasa an und gaben jedem Mönch 30 Yuan als Zuschuß zu unseren Pensionen. Sie wollten unbedingt die Mönche vom Demonstrieren abhalten.
Einen Monat lang stritten wir mit den Chinesen, bis schließlich unsere zwei Dialektik-Lehrer Yeshi Wangchuk und Lobsang Gyantso verpflichtet wurden, dafür zu sorgen, daß wir alle das Monlam Fest besuchten. Man drohte ihnen mit Gefängnis, falls wir nicht hingehen würden. So gingen letztendlich die meisten von uns hin.
Die Kommunisten waren fest entschlossen, das Monlam Fest erfolgreich zu gestalten, um zu beweisen, daß es in Tibet Religionsfreiheit und keine Probleme mit den Menschenrechten gibt. Sie brachten Fahrzeuge mit Klimaanlage, wie sie normalerweise nur von den chinesischen Funktionären benutzt werden, aber wir zogen vor, mit dem Bus zu fahren. 200 Mönche von Ganden nahmen schließlich an dem Monlam Fest teil, während 45 im Kloster zurückblieben.
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Teil 5 |
Demonstration vom 5. März 1988
Am 24. Februar starteten wir abends zu der eine Woche dauernden Festlichkeit. Ehe wir abfuhren, legten wir alle ein geheimes Gelübde vor Palden Lhamo und Damchen Choegyal, unseren zwei Schutzgottheiten, ab, daß wir, falls nötig unser Leben opfern würden, um den Kommunismus zu entlarven und sein wahres Gesicht aufzudecken. Wir trugen alle unsere Amulette-Beutelchen um den Hals, in die wir Reiskörner steckten (wie sie normalerweise bei Zeremonien benutzt werden, die Schutz gewähren), dazu vom Dalai Lama gesegnete Pillen und Stoffstückchen von den Statuen der Schutzgottheiten, die unsere Kameraden uns gegeben hatten. Diese Beutelchen banden wir uns mit roten Schutzkordeln um den Hals.
Wir kamen spät am Abend des ersten Festtages an, aber es waren nur Novizen aus Sera und Drepung zu sehen, die von den Chinesen bestochen worden waren. Sie hatten ihnen erklärt, daß sie nur dem Kloster beitreten dürften, wenn sie an dem Fest teilnehmen.
Andere Mönche von Drepung und Sera, die im Gefängnis waren, wurden auf Intervention des Panchen Lama vor dem Monlam Fest freigelassen und in ihre Klöster zurückgebracht. Am nächsten Tag kamen dann die meisten der Sera Mönche und am folgenden Morgen ein paar aus Drepung an.
In Lhasa herrschte eine sehr starke Präsenz von Sicherheitskräften, und als wir bei dem Tempel eintrafen, wo das Fest stattfindet, umgaben lauter Soldaten den Tsuklhakhang (Jokhang), und von allen Seiten waren die Gewehrläufe auf uns gerichtet. In Ganden hatten wir geplant, am letzten Tag des Festes in Aktion zu treten, gleich nachdem die Statue des Maitreya Buddha um den Barkhor getragen und in den Tempel zurückgebracht worden ist.
Am 3. März, gegen Ende des Festes, erhob sich plötzlich während einer Gebetsversammlung Jampa Phuntsok, ein Mönch des Klosters Tashi Choeling, und erklärte, daß "Tibet wahrhaftig eine unabhängige Nation" sei, daß "Tibet den Tibetern gehöre und daß die Chinesen nach China zurückgehen müßten". Dann wünschte er dem Dalai Lama ein langes Leben. In diesem Augenblick waren alle so verblüfft, daß sie schwiegen, selbst die chinesischen Soldaten. Jampa Phuntsok wurde dann am 17. März verhaftet und kam für drei Jahre ins Gefängnis.
Wir anderen wollten uns nicht durch Unterbrechen des noch im Gang befindlichen Monlam Chenmo negatives Karma zuziehen. Und weil uns wir an dem Tag, als Jampa Phuntsok aufstand und sprach, uns nicht ihm angeschlossen hatten, meinten die Chinesen, daß wir aus Furcht schwiegen und beruhigten sich etwas. Als wir am 5. März, dem letzten Tag des Monlam Festes, aus dem Tsuklhakhang heraustraten, standen dort vor der ganzen Front des Gebäudes sowie entlang des Barkhors lauter Polizisten in Zivil und mit langen Schlagstöcken und Metallruten bewaffnete Soldaten. Alles Sicherheitspersonal war chinesisch. Als das letzte Gebet des großen Festes zu Ende war, ging ich zu den anderen Mönchen von Ganden, und wir wechselten alle unsere Kleidung in gewöhnliche um. Ich vergewisserte mich, daß ich das Schutzbeutelchen um den Hals trug und traf die notwendigen Vorbereitungen für die Demonstration. Ich legte meine Kleider und meine Decke in den Lastwagen, der ins Kloster zurückfuhr.
Als ich um etwa dreiviertel zehn in den Tempel ging, wurde gerade die Maitreya Statue in den Tsuklhakhang zurückgetragen, und etwa 65 Mönche begannen Protestparolen zu rufen, als sie auf den Barkhor hinaustraten. Sie riefen "Tibet ist ein unabhängiges Land! Freiheit für Tibet! Chinesen geht nach China zurück! Lang lebe der Dalai Lama!". Ich schloß mich ihnen an und wurde bald der Anführer der Gruppe. Die Chinesen machten von oben Videoaufnahmen, während sie unten auf dem Platz normale Kameras hatten, auf die ich Steine warf.
Den ersten Ansporn zu dem Protest gaben die Ganden-Mönche, denen sich die von den anderen Klöstern anschlossen, so daß wir bald zwischen zwei- und viertausend Mönche waren. Im Laufe des Tages kamen noch einige Tausend gewöhnlicher Tibeter hinzu.
Gegen 11 Uhr eröffneten die Chinesen das Feuer auf die Menge; ich wurde dabei ins Bein getroffen, aber um diese Zeit hatte ich alle Furcht verloren. Ich war sehr ärgerlich, und die Kugeln flogen dicht an mir vorbei. Ein Khampa namens Gonpo Paljor, der an meiner Seite war, wurde in den Kopf geschossen und starb kurz danach. Zwei Mönche aus dem Kloster Sera, Kelsang Tsering und Lobsang Tenpa, wurden auch von einer Kugel getroffen. Lobsang Tenpa überlebte, aber Kelsang Tsering starb auf der Stelle. Wir randalierten weiter, brachen in chinesische Läden ein und verbrannten ihre Waren. Einige Tibeter setzten ein chinesisches Spital in Brand. Wir versuchten, die Chinesen zu verjagen und forderten sie auf, nach Hause zurückzukehren. Wir zündeten ihre Fahrzeuge an, aber die Kugeln flogen uns nur so um die Ohren. Die Soldaten setzten nun auch Tränengas ein; viele Leute wurden angeschossen und verwundet.
Einige Mönche wurden aus dem Tsuklhakhang heraus ergriffen. Ich sah, wie die Chinesen sie mit Stöcken und Metallstangen schlugen. Die Soldaten fesselten sie und warfen sie wie Säcke in ihre Fahrzeuge. Ich sah Soldaten auf den Hausdächern stehen, die große Felsbrocken auf die Tibeter hinabrollten. Der Tempel war mit dem Blut von Tibetern bespritzt. Dann wurde ich von einem Stein am Kopf getroffen, den ein chinesischer Soldat geworfen hatte. Ich begann zu bluten und rannte in eine kleine Gasse zwischen zwei Häusern. Soldaten auf einem Hausdach versuchten mich zu zerschmettern, indem sie einen Felsbrocken auf mich fallen ließen. Er kam direkt auf mich zugeflogen und hätte mich erschlagen, wenn mich nicht im letzten Moment eine sehr starke Frau aus seiner Flugbahn gezogen hätte. Ich glaube, diese Frau war Palden Lhamo, die Schutzgöttin Lhasas.
Zu diesem Zeitpunkt verlor ich das Bewußtsein und als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in dem Gebäude, wo die Ganden Mönche untergekommen waren. Ich weiß nicht, wer mich gefunden und dorthin gebracht hatte. Um mich herum lagen viele verwundete und bewußtlose Mönche.
Vor drei Uhr am frühen Nachmittag stand ich wieder auf und ging zurück zu der Demonstration, wo der Kampf weiter tobte. An diesem Nachmittag wurde einer der chinesischen Polizisten getötet. Es heißt, er sei von Steinen oder von einer Metallstange getroffen worden. Ich kam an dem Leichnam vorbei, als ich um das Gebäude ging und wieder Parolen rief. Um diese Zeit waren etwa 10 Ganden-Mönche festgenommen worden. Einige Ganden-Mönche beschlossen in Lhasa zu bleiben, während viele ins Kloster zurückkehrten. Mein Allgemeinzustand war schlecht, mein rechtes Bein war geschwollen und mein Schuh von der angeschossenen Ferse voller Blut. Auch meine Hände bluteten, vielleicht vom Steinewerfen, und am Kopf hatte ich ebenfalls eine Verletzung dort, wo mich der Stein nahe des Haaransatzes getroffen hatte.
Zu diesem Zeitpunkt kamen die Polizisten in das Haus. Eigentlich waren es tibetische Offizielle, von den Chinesen dazu gezwungen, die über unser Tun in Angst und Schrecken versetzt waren. Sie wollten, daß wir nach Ganden zurückkehren. Wir sagten, wir würden nur zurückfahren, wenn sie die 10 verhafteten Mönche freilassen würden. Sie machten schließlich irgendwelche Versprechungen, unsere Freunde freizulassen. Diese wurden aber nie eingehalten.
Wir kehrten daraufhin in das Kloster zurück, wo ich eine Nacht verbrachte. Am folgenden Morgen, dem 6. März, versuchte ich meine Wunden zu versorgen, denn ich wußte, daß die Polizei hinter mir her war. Ich bekam die Erlaubnis, das Kloster zu verlassen und fuhr am selben Abend im Klosterauto zurück nach Lhasa. Unterwegs sah ich meine zwei Schwestern den Hügel heraufrennen. Mir war klar, daß sie im Rundfunk von den Geschehnissen gehört hatten und daß sie in Sorge um mich waren. Ich mußte mich also vor ihnen verbergen.
Als ich in die Stadt kam, sah ich, daß sie von Soldaten wimmelte, die ihr Gewehr im Anschlag hielten. Das Auto fuhr an den Straßenrand und ich wischte hinaus. Ich trug normale saubere Kleidung. Ich ging in das chinesische Spital, das immer noch brannte und kam auf dem Barkhor-Weg heraus. Hier hielten mich einige Soldaten wegen meines verwundeten Beines an. Ich erzählte ihnen, ich würde am Barkhor wohnen und auf dem Bau arbeiten, wo ich mich verletzt hätte. Ich wäre gerade zur Behandlung im Krankenhaus gewesen. So ließen sie mich durch. Dann ging ich in ein Restaurant, wo einige Tibeterinnen mir halfen, etwas indische Arznei zu kaufen. Sie gaben mir auch Butter, die ich auf die Wunden schmierte. Ich konnte zu dieser Zeit nirgends übernachten, weil die Soldaten die Häuser eines um das andere durchsuchten; deshalb schlief ich auf den Stufen des Tsuklhakhang Tempels, unter der Tür, wo das große "Mani" (Gebetstrommel) steht. Es war sehr dunkel, und ich hatte keine Decke; ich mußte auch sehr früh aufstehen, damit ich nicht entdeckt würde. Am nächsten Tag waren meine Beine sehr steif, aber ich konnte mich zum Markt durchkämpfen, wo ich unter einer Verkaufsbude schlief. Ich hatte gerade genug Geld, um Essen für mich zu kaufen. Nach etwa 7 Tagen begannen mir die Marktleute zu helfen. Sie besorgten mir Arznei für das verwundete Bein und verkleideten mich als ein Mädchen mit Ohrringen und Lippenstift. So verbrachte ich einen Monat. Ich schlief immer draußen unter den Verkaufsbuden, denn die Chinesen fahndeten bereits speziell nach mir. Alle meine Freunde waren verhaftet und eingesperrt worden. Um diese Zeit ging ich zu einem tibetischen Lama und bat ihn, meine Zukunft mit dem traditionellen Mo (Würfelwerfen) zu ermitteln. Er sagte voraus, daß ich bald gefaßt werden würde.
Am 14. oder 15. April erfuhr ich, daß inzwischen drei Lastwagen voller Soldaten mein Elternhaus aufgesucht hatten. Sie umstellten das Haus, ließen meine Eltern herauskommen und hinknien, während sie alles nach mir durchsuchten. Als sie mich nicht finden konnten, erklärten sie meinen Eltern, daß sie eine Woche Zeit hätten, mich herbeizuschaffen. Ich sei ein reaktionärer Separatist und meine Eltern würden persönlich für mich haften. Mein Vater versuchte, ihnen klarzumachen, daß sein Lebenswandel von meinem ganz verschieden sei, daß ich nie nach Hause kommen, und die Soldaten mich in Ganden finden würden. Sie antworteten, daß die örtlichen Behörden nach einer Woche eine Suchaktion starten und ein Kopfgeld auf mich aussetzen würden. Als ich dies hörte, war ich sehr niedergeschlagen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß meine Familie wegen meiner Taten leiden mußte. So ging ich ganz früh am 17. April nach Hause, wo ich um 6 Uhr eintraf. Meine Familie und die Leute im Dorf weinten. Um halb neun Uhr am 18. April kamen dann die Chinesen und verhafteten mich.
Sie müssen durch Spione erfahren haben, daß ich zurückgekehrt war, da nur meine Familie und enge Freunde wußten, daß ich zurück war. Zwei Polizisten, ein Tibeter und ein Chinese, nahmen mich fest. Sie fragten nach meinem Namen. Ich nannte ihn, und dann holten sie Revolver und Handschellen heraus. Ich sagte, daß sie diese Dinge nicht brauchten, denn ich würde mich von Beruf mit der Wahrheit befassen. Als Antwort schlugen sie mich ins Gesicht, schalten mich ein Großmaul und befahlen mir zu schweigen. Sie sagten, sie würden mich ins Kloster zurückbringen. Sie boxten mich mit ihren Fäusten in den Nacken. Die Handschellen waren von der Art, die sich allmählich automatisch zuziehen, so daß einem schließlich die Fingerspitzen bluten. Ich wurde ins Kloster zurückgefahren. Als ich dort ankam, bluteten meine Hände, wo die Schellen aufsaßen, und an den Fingerspitzen. Ich sah, daß sie auch Penpa Tashi festgenommen hatten, den sie mit denselben Handschellen gefesselt hatten.
Sie brachten mich in das Büro des Klosters, wo etwa 15 der dort diensttuenden Polizisten standen. Sie zwangen mich, meinen Daumenabdruck auf ein Dokument mit Siegel zu setzen, und ohrfeigten mich auf beide Wangen. Dann schlugen sie mich mit ihren Stöcken, bis ich überall blutete, und verhöhnten mich, daß dies die begehrte Freiheit für mich sei. Sie zogen die Handschellen noch enger zu und verfrachteten mich und Penpa Tashi zusammen mit drei Polizisten wieder in das Auto. Als sie abfuhren, sah ich meine Eltern an der Straße auf mich warten, aber das Auto hielt nicht an. Ich schrie nach ihnen und versuchte aus dem fahrenden Auto zu springen, aber ein Polizist fesselte eine meiner Hände an den Sitz und zog die Handschellen noch fester an, so daß es schrecklich schmerzte. Etwa 15 Minuten vor Lhasa erlaubten sie mir auszutreten, und nutzten wieder die Gelegenheit, um auf mich einzuschlagen. Dann fuhren sie uns direkt in das Gutsa Gefängnis östlich von Lhasa. In Gutsa banden sie unsere Handschellen zusammen, und wir mußten unsere Hände etwa eine halbe Sunde lang nach oben gestreckt halten. Nun brachten sie ein anderes Papier zum Unterschreiben und führten uns weiter in das Gefängnis hinein, wo ich viele politische Gefangene sah, die geschlagen und an den Armen aufgehängt wurden. Dann nahmen sie mir die Handschellen ab, traten mich in den Bauch und stießen mich in einen Graben bei einem Gemüsebeet. Als ich sagte, daß ich Mönch sei, traten sie mich wieder. Schließlich steckten sie mich in eine Zelle, in der vier andere Häftlinge waren, alles wegen krimineller Vergehen eingesperrte Tibeter.
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Teil 6 |
Vernehmung in der Untersuchungshaft
1. Tag, 19. April, erste Vernehmung
Etwa gegen halb neun am nächsten Morgen kam ein Mann und holte mich zur Vernehmung ab. Ein tibetischer und ein chinesischer Beamter nahmen zuerst meine Daumenabdrücke und begannen dann mit der Vernehmung. Sie sagten, sie wüßten, daß es im Kloster eine Unabhängigkeitsgruppe gebe, zu der ich sicher auch gehörte. Sie fragten, ob diese Gruppe Beziehungen außerhalb Tibets habe. Ich antwortete, daß ich keinerlei Beziehungen hätte, worauf sie fragten, wer mich dann zu der Demonstration geschickt hätte. Ich antwortete, daß ich keine ausländischen Kontakte brauche oder jemanden, der mir zu demonstrieren oder eine Gruppe zu gründen aufträgt. Mir sei klar, was in Tibet vor sich geht, und deshalb hätte ich demonstriert. Dann wollten sie wissen, wieviel Geld ich den Amerikanern für den Dalai Lama gegeben hätte, und ob ich für die tibetische Regierung im Exil tätig wäre. Ich antwortete, daß ich ihnen kein Geld gegeben hätte, daß ich gar kein Geld übrig hätte, weil die Chinesen den Leuten in unserem Dorf Nahrungsmittel und Geld wegnehmen. Ich fügte hinzu, daß die Chinesen nach China zurückkehren sollten.
In dem Zimmer war ein Tisch, auf dem ein Elektroschockgerät, ein Revolver und Handschellen, bei denen die Hände getrennt gefesselt werden, lagen. Diejenigen, die ich trug, fesselten dagegen meine Hände zusammen. Der Chinese stellte die Fragen und schrieb die Antworten nieder, während der Tibeter dolmetschte. Die Art der Vernehmung war sehr aggressiv, immer wieder ließen sie die Pistole auf den Tisch knallen. Ich sagte ihnen genau, was meine Gedanken waren, weil ich dachte, ich würde ohnehin bald sterben. Als ich sagte, daß ich keine Kontakte außerhalb Tibets hätte, steckte mir der Chinese den Elektroschlagstock in den Mund. Dadurch fing mein Mund zu bluten an. Er stieß ihn mir auch ins Gesicht und fuhr damit an meiner Brust und meinem Rücken entlang. Beide Männer versetzten mir mehrere Male Fußtritte. Der Tibeter war nicht ganz so brutal wie der Chinese, der Zigarettenstummel auf meinem Gesicht ausdrückte.
Dann wurde ich gegen eine Wand gedrückt und aufgefordert, anzugeben, welche Mönche sonst noch bei der Demonstration mitgemacht hätten. Als ich ihre Namen nicht nannte, traten sie mir in den Bauch. Ich weiß gar nicht, wie oft sie das taten, aber schließlich begann ich zu erbrechen und aus Mund, Nase und Ohren zu bluten. Als ich das Bewußtsein verlor, gossen sie Wasser über mich, um mich zu beleben, rissen mich hoch und schmetterten meinen Kopf gegen die Wand, wobei sie mich an den Haaren festhielten.
Am ersten Tag erfolgten diese Mißhandlungen in zwei Abschnitten. Die erste Periode dauerte von halb neun bis kurz vor Mittag, die zweite von ein Uhr bis Sonnenuntergang, als sie mich schlugen, aufhängten und wieder mit dem Elektroschockgerät bearbeiteten. Im Laufe des Tages bekam ich von den Mitgefangenen zwei kleine tingmo (Dampfweckchen), aber nichts zu trinken. Der springende Punkt war, daß sie glaubten, ich wisse etwas über den Vorfall am 5. März mit dem angezündeten Fahrzeug und dem getöteten Polizisten. Sie gaben mir die Schuld an seinem Tod, obwohl sie keinen richtigen Beweis hatten. Sie wußten nur, daß ich auf dem Rückweg zum Kloster verwundet wurde. Weil ich zurückwies, ihn umgebracht zu haben, ließen sie mich im Freien barfuß 35 Minuten lang auf einer Eisfläche stehen. Als sie mich schließlich wegzogen, war die Haut meiner Fußsohlen angefroren, und sie bluteten schrecklich. Am Ende der Vernehmung war ich ganz krank. In jener Nacht mußte ich die ganze Nacht neben dem Gemüsebeet stehen und durfte überhaupt nicht schlafen.
Hier möchte ich einfügen, daß mir die Einzelheiten der Folterungen nicht mehr alle gegenwärtig sind, besonders wann genau was erfolgte, und für wie lange. Aber alle Foltermethoden, die ich beschreibe, wurden an mir vollzogen. Es liegt jedoch nun schon einige Zeit zurück, und die Erfahrungen waren so traumatisch, daß es mir jetzt schwer fällt, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Ich wiederhole jedoch, daß alle diese Folterungen stattfanden, und die Details stimmen meiner Erinnerung nach.
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2. Tag, 20. April, zweite Vernehmung
Am nächsten Morgen bekam ich zwei kleine tingmo und eine große Tasse Tee ohne Milch und Zucker. Ich meine mich zu erinnern, daß es drei Nächte waren, in denen ich nicht schlafen durfte. Was ich in meiner Zelle zu essen bekam, wurde mir nicht von den Gefängniswärtern, sondern von Mitgefangenen gegeben. Einmal gab mir auch jemand einige Kartoffeln. Die ganze Zeit, sogar bei Nacht, waren meine Hände in die Schellen gezwängt.
An jenem Morgen hatte ich schrecklichen Durst und mir war schwindelig vor Hunger. Ich wurde wieder in das selbe Zimmer gebracht, aber es waren nun andere Vernehmungsbeamte, zwei Chinesen und ein Tibeter. Derselbe Prozeß wiederholte sich. Die Fragen waren die gleichen und ebenso die brutalen Mißhandlungen. Nur nahmen sie mir dieses Mal die Schuhe ab, machten meine Füße naß und berührten dann meine Fußsohlen mit dem Elektroschockstab, wodurch mein ganzer Körper zuckte und mir Blut aus Nase und Mund trat.
Um die Mittagszeit trugen mich andere Gefangene in die Zelle zurück. Ich erinnere mich, daß sie mir zwei tingmo und eine Handvoll Gemüse gaben. Ich denke, daß die Vernehmung an diesem Tag von halb neun bis zum späten Vormittag dauerte. In jener Zeit waren die anderen Gefangenen wirklich sehr nett zu mir. Ich konnte nicht alleine essen oder zum Klo gehen, weshalb sie mein Bett machten, mich fütterten und mich zur Toilette brachten, die in einem Eimer neben der Tür bestand, in den man seine Notdurft verrichtete. Die Zelle maß etwa 2 x 2 m. Wir waren zu fünft und mußten uns eine Matratze auf dem Boden teilen. Die anderen waren gewöhnliche Gefangene, drei waren wegen Diebstahl und einer wegen Vergewaltigung eingesperrt.
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2. Tag, 20. April, dritte Vernehmung
Am Nachmittag wurde ich wieder geholt, diesmal in ein anderes Zimmer. Wieder waren es andere Beamte, zwei Chinesen und ein Tibeter. Ich wurde erneut drei Stunden lang mit Fragen bedrängt, immer von Peinigungen begleitet. Bei dieser Sitzung versetzten sie meinem Herzen Elektroschocks, was so entsetzlich war, daß ich dachte, ich würde den Verstand verlieren. Inzwischen waren meine Hände wegen der scharf einschneidenden Handschellen angeschwollen. Ich beklagte mich bei den Chinesen über den Schmerz, aber kann mich nicht daran erinnern, was sie antworteten. Sie stellten wieder Fragen, aber diesmal waren sie viel gewalttätiger. Es war die gleiche Art des Verhörs: Wer mich zum Demonstrieren bewogen hätte, wer verantwortlich sei, was ich über den Mord an dem Polizisten wisse und was ich genau während der Demonstration getan hätte. Ich gab ihnen keine Auskunft.
Dann schleiften sie mich in die Nähe des Gemüsebeets im Hof, und ich mußte drei weitere Stunden mit erhobenen Armen an einer Mauer im Freien stehen. Wieder kamen dieselben Fragen und dieselben Foltermethoden. Sie zogen mich nackt aus und spritzten Wasser auf mich, das in der Kälte an mir erstarrte. Sie versetzten mir Elektroschocks an den Ohren, an Brust und Rücken und wieder blutete ich. Das ging bis 6 Uhr abends so weiter, aber sie bekamen immer noch nichts aus mir heraus.
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2. und 3. Tag, zwölf Stunden lang aufgehängt
Etwa um diese Zeit hängten sie mich an einem Gestell auf, das aus der Mauer hervorragte. Ich mußte auf einen Stuhl steigen, dann zogen sie eine Kette durch die Handschellen und ließen mich etwa einen Fuß über dem Boden baumeln. Einmal kamen sie und fragten, ob ich nun etwas zu sagen hätte, und als ich schwieg, entfernten sie sich wieder. Sie ließen mich so bis zum Sonnenaufgang am nächsten Morgen hängen. Irgendwann verlor ich das Bewußtsein; beide Handgelenke bluteten, und obwohl die Schultergelenke nicht ausgerenkt waren, schmerzten meine Oberarme schrecklich. Etwa um halb sieben kam ich wieder zu mir, und kurz danach holten sie mich herunter.
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3. Tag, 21. April, vierte Vernehmung
An jenem Morgen ließen sie mich etwa zwei Stunden in der Nähe eines Fensters stehen, bis die nächste Verhörsitzung begann. Wieder waren es andere Folterknechte, ein Tibeter und ein Chinese. Aber die Fragen blieben immer die gleichen. Die chinesischen Vernehmer konnten recht gewieft sein. Sie versuchten meine Meinung auch zu anderen Dingen als den Demonstrationen herauszubekommen. Bisweilen redeten sie recht freundlich. Sie sagten, wenn ich mich kooperativ zeigte und die Namen meiner Gefährten offenbarte, würde ich entlassen, wenn ich es nicht täte, würde die Folterung jedoch weitergehen. Diese Vernehmung dauerte etwa zwei Stunden lang. Sie schlugen mich ins Gesicht, dann berührten sie mich mit dem Elektroschockgerät am Gesicht und hinter den Ohren, wo die Nerven verlaufen, dann an meinen Händen. Das hat die Wirkung, daß ein Zucken durch den ganzen Körper fährt, es einem innerlich sehr heiß wird und man glaubt, das Bewußtsein zu verlieren. Es ist sehr schmerzhaft. Einmal elektrisierten sie mich auch in der Bauchgegend.
In dem Vernehmungszimmer standen drei Stühle. Nachdem ich hereinkam, setzte ich mich auf einen, aber sobald die Fragen begannen, mußte ich aufstehen und durfte mich die ganze Zeit über nicht mehr setzen. Sie benutzten auch zwei verschiedene Vernehmungszimmer, zwischen denen sie abzuwechseln schienen.
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3. bis 5. Tag, drei Tage Stehen im Freien
Die nächsten drei Tage und Nächte mußte ich in der Nähe des Gemüsegartens im Freien stehen. Es war April, d.h. in Lhasa noch Winter. Ich hatte nur ein dünnes Unterhemd an, ein chinesisches Hemd mit einem Reißverschluß vorne, ein Paar Unterhosen und ein Paar Baumwollhosen. Ich trug dünne Socken und leichte Schuhe und fror deshalb entsetzlich.
Am fünften Tag bekam ich von Mitgefangenen einige tingmos. Ich litt verzweifelt unter Durst und so steckte mir ein Tibeter eine Schüssel für Wasser zu. In der Nähe war ein Graben, durch den schmutziges Abwasser floß. Ich mußte mit der Schüssel dieses Wasser schöpfen, wenn ich sicher war, daß keiner mich beobachtete. Wenn ich etwas Wasser in der Schüssel hatte, stellte ich sie auf eine Kante und tippte sie mit meinem Kinn an, um zu trinken. Es war riskant, weil die chinesischen Gefängniswärter mich ständig im Auge hatten. Wenn ich die Schüssel nicht gebrauchte, versteckte ich sie in dem Gemüse neben mir. Das Abwasser floß nicht immer, sondern kam nur zeitweise. Ich fischte auch Gemüseschnipsel heraus, wenn gerade Essen zubereitet wurde.
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6. Tag, 24. April, fünfte Vernehmung
Am fünften Abend wurde ich in meine Zelle zurückgebracht, wo ich die Nacht über schlief. Die Mitgefangenen hatten ein kleines tingmo für mich aufgehoben. Sie durften hinausgehen, um heißes Wasser zu holen, und so brachte mir in dieser Nacht einer einen Krug Wasser. Das tat er am nächsten Morgen wieder, und so hatte ich zum Frühstück einen Becher schwarzen Tee (ohne Milch und Zucker) und ein eigroßes tingmo. Um etwa halb neun Uhr wurde ich wieder in das erste Vernehmungszimmer gebracht.
Diesmal waren je zwei höhere chinesische und zwei tibetische Beamte von dem Büro für Öffentliche Sicherheit in dem Zimmer. Sie saßen auf bequemen Stühlen, ich aber bekam einen kleinen Hocker. Auf dem Tisch vor sich hatten sie eine Sammlung an Folterinstrumenten liegen. Sie ließen mich hinsitzen und fragten dann wieder nach Einzelheiten über den Tod des Polizisten und das Inbrandstecken der Fahrzeuge. Es hieß, ich müsse Mitglied der Unabhängigkeitsgruppe in Ganden sein. Sie wollten wissen, wer von den anderen Kontakt zum Westen hätte. Immer wieder fragten sie, ob ich Beziehungen zum Dalai Lama und zu der tibetischen Regierung im Exil hätte. Ich antwortete, daß ich nichts von einer Organisation wüßte und auch keine Kontakte zum Westen bräuchte. Ich sei ja nur ein Mönch, weshalb brauchte ich da Kontakte? Ich brauchte nicht mit westlichen Kontakten zu arbeiten. Ich sagte, wenn sie mich umbringen, dann würde die ganze Welt davon erfahren. Ich fügte hinzu, daß ich keine Verbündeten hätte und deshalb auch niemanden denunzieren könnte.
Dann mußte ich auf allen Vieren knien und mein Kinn auf einen etwa 3 Fuß hohen Stuhl legen. Wegen der Handschellen konnte ich meine Hände nicht richtig flachlegen, weshalb sie darauf traten, um sie flach auszustrecken. Es war so fürchterlich schmerzhaft im Nacken, weil mein Kinn von dem Stuhl nach oben gezerrt wurde. Ich erinnere mich, daß ich nach meiner Mutter schrie. Dann legten sie die Elektroschockwaffen an meinem Nacken und auf beiden Seiten unter den Ohren an. Die Folter betraf hauptsächlich meinen Kopf und den Rücken vom Nacken abwärts, aber manchmal verabreichten sie mir auch Elektroschocks am Anus und den Genitalien. Sie zogen mein Hemd nach oben und traten mir mit ihren Metallstiefeln in den Rücken. Der Schweiß strömte mir aus den Poren auf den Boden, weil die Schmerzen so heftig waren.
Die Peinigungen dauerten den ganzen Tag lang an, wobei die Folterknechte in Schichten arbeiteten und mich abwechselnd mit den Elektroschocks peinigten und mit Eisenstangen auf den Rücken schlugen. Diese Vernehmung und vor allem die Stellung, in der ich mich befand, waren tatsächlich das Schlimmste von allem. Dreimal flehte ich sie an, mich umzubringen. Ich erklärte, es gebe nichts, was ich ihnen sagen könnte. Den ganzen Tag über bekam ich nichts zu essen und zu trinken und zum Ende spuckte ich Blut. Zweimal verlor ich das Bewußtsein, worauf ich mit Wasser wieder zu mir gebracht wurde, nur um erneut mit den Fragen gequält zu werden.
Bei Sonnenuntergang wurde ich in die Zelle zurückgebracht. Ich konnte nicht mehr gehen. Einer der Gefangenen hatte ein tingmo für mich aufgehoben, das ich aß. Dann legte ich mich einfach hin. Mein ganzer Körper schmerzte und mir war sehr schwindelig. Später bekam ich so schrecklich Hunger, daß ich die Watte aus meiner Steppdecke aß. In dieser Nacht hatte ich gar nichts zu trinken.
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7. Tag, 25. April, sechste Vernehmung
Am folgenden Morgen bekam ich ein kleines tingmo und einen Becher schwarzen Tee. Dann wurde ich in das zweite Vernehmungszimmer geführt. Zwei neue Vernehmer waren darin, ein Chinese und ein Tibeter. Ich bat, ob ich zur Toilette gehen könnte, und als der Tibeter mich zu der Toilette des Personals brachte, schaute ich in die Kloschüssel hinab und sah, daß ein tingmo darin schwamm. Ich hob es auf und aß es.
Dann stellten sie mir den ganzen Vormittag über Fragen, während ich auf einem Hocker saß. Sie folterten mich mit einem elektrischen Schockgerät und einem Metallstab von etwa zweieinhalb Fuß Länge und einem Zoll Durchmesser. Wieder kamen dieselben Fragen. Die Sitzung dauerte von halb neun bis etwa Mittag, als ich in meine Zelle zurückgebracht wurde. Die anderen Gefangenen waren zur Zwangsarbeit gegangen, so war ich alleine und hatte nichts zu essen. Ich war so hungrig, daß ich mein Unterhemd auszog, Fetzen abriß und sie verspeiste.
Diese extremen Folterungen dauerten etwa elf Tage, während welcher Zeit ich niemals denselben Vernehmern gegenüberstand. Ich sah jedoch, daß sie dieselbe Akte als Grundlage benutzten. Vom 11. bis zum 16. Tag wurde ich weiteren ziemlich intensiven Verhören unterzogen, gewöhnlich morgens. Diese, einhergehend mit sporadischen Schlägen hielten insgesamt etwa einen Monat an. Einmal war eine chinesische Frau dabei, die sehr brutal war. Sie trug etwas Scharfes an ihren Händen, mit denen sie mich schlug. In dieser Zeit fühlte ich mich so durstig, daß ich manchmal meinen eigenen Urin trank. Wegen der Handschellen konnte ich meine Kleider nicht selbst ausziehen, weshalb ich oft in die Hosen machte. Da ich keine Möglichkeit hatte, mich zu waschen, verdreckte und verlauste ich. Oft weinte ich stundenlang, weil es mich so schrecklich juckte, aber ich mich der gefesselten Hände wegen nicht kratzen konnte. Ich konnte auch nicht richtig schlafen.
In der zweiten Hälfte dieses Monats ließen sie mich drei Tage alleine in einer Einzelzelle, aber dann wurde ich zurückgeholt und richtig zusammengeschlagen. In den ersten 16 Tagen der intensiven Vernehmung bekam ich gerade so viel zu essen, daß ich nicht starb, aber vom 16. Tag an erhielt ich regelmäßig tingmos und Tee am Morgen und zu Mittag und abends einige tingmos und Gemüse, aber keinen Tee. All das bekam ich aber immer noch von meinen Mitgefangenen. Und wenn sie hinausgingen, um den Toiletteneimer zu leeren, konnten sie etwas Wasser für mich holen.
Nach einem Monat dieser Qualen konnte ich es nicht mehr aushalten und gestand schließlich, einen Polizisten mit einer Eisenstange geschlagen zu haben. Die Beamten brachten dieses Geständnis zu Papier. Ich weiß nicht, ob andere Leute auch geständig wurden, aber ich könnte es mir gut vorstellen.
Drei Tage, nachdem die Vernehmungen aufhörten, wurden mir die Handschellen abgenommen. Ich hatte sie 1 Monat und 3 Tage getragen. Die Folgen davon waren so heftig, daß, wenn ich eine Hand auf eine Seite bewegte, die andere ihr automatisch folgte, und ich den Knochen an meiner linken Hand unterhalb des Handgelenks durchschimmern sehen konnte. Die Elektroschocks bewirkten, daß mein Körper sogar jetzt noch zittert. Wenn meine Hände zu zittern begannen, pflegte auch mein Kopf zu wackeln. Das hat sich nun ein wenig gebessert. Ich kann jetzt Griffe halten, aber neige immer noch dazu, Gegenstände fallen zu lassen, weshalb ich Dinge wie Tassen von unten halten muß.
In den folgenden Monaten holten sie mich eines Tages heraus, um mich zu photographieren. Ich mußte meine gefesselten Hände vor meine Brust legen und ein Papier mit meinem Namen festhalten. Viele Photos wurden gemacht. Danach wurden mir keine Fragen mehr gestellt, und ich wurde in der Zelle gelassen. Sechs Monate lang ließen sie mich in Einzelhaft in der Zelle Nr. 4 liegen. Danach wurde ich in Zelle Nr. 1 gesteckt, in der wir zusammen zwölf waren, alles Leute, die ich von früher kannte. Wir waren alle politische Gefangene und blieben vier Monate lang zusammen eingesperrt. Auch drei Mönche von Ganden waren dabei. Die Namen der Gefangenen in meiner Zelle waren: Tsering Dhondrup aus Kloster Nechung, Tamdrin aus Kloster Ganden, Lobsang Tenzin, ein Student im Abschlußsemester der Universität Lhasa, Sonam Wangdu, ein Händler aus Lhasa, Gyaltsen Choephel, Tsering Dorje, ein Tsampa- und Reismehlhändler aus Lhasa, Lobsang Dargye, ein Mönch aus Sera, Tsering Nyima, ein weiterer Händler aus Lhasa, Pema Rigzin, und der Khampa Merwaqna.
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Teil 7 |
Gerichtsverhandlung und Verurteilung
Drei Tage vor unserem Prozeß wurde gegen sechs von uns (Sonam Wangdu, Gyaltsen Choephel, Tsering Dondrup, Tamdrin, Lobsang Tenzin und mich) die Anklage erhoben, wir seien die Anführer der Demonstration vom 5. März in Lhasa gewesen und für den Tod des Polizisten verantwortlich.
Jeder von uns erhielt ein Blatt Papier, auf dem die Verbrechen, derentwegen er angeklagt wurde, in Chinesisch und in Tibetisch aufgeführt waren. Ich habe mein Dokument nicht mehr, erinnere mich aber, daß darauf stand, ich sei erstens einer der Chefs einer separatistischen Bewegung, zweitens einer der Anführer der Demonstration vom 5. März und habe drittens einen Polizisten umgebracht.
Dieses Anklagepapier bekam ich drei Tage vor unserem Auftritt vor Gericht. Kurz vorher wurden wir alle hinausgeführt, um die Anklage entgegen zu nehmen, und wir wurden alle gemeinsam gefragt, ob wir einen Rechtsvertreter wünschten. Dies könnte irgend jemand sein, wurde uns gesagt, Eltern, Freunde oder sonst wer, vorausgesetzt, die betreffende Person sei mit dem chinesischen Gesetz vertraut. Wir antworteten, wir wollten keinen Vertreter, weil wir der Ansicht waren, daß wir selbst für uns sprechen könnten. Wir wußten genau, wenn wir jemand ernennen würden, wenn ich zum Beispiel meinen Vater einsetzen würde, sie dann zu ihm gehen und Druck auf ihn ausüben und ihm vorschreiben würden, was er sagen und was er nicht sagen könne. Es wurde uns auch erklärt, daß wir einen Zeugen haben könnten, um unsere Unschuld zu beweisen, falls wir das wünschten.
In den drei Tagen nach Erhalt des Anklagepapiers wurden wir getrennt voneinander in Zellen gehalten. Keiner sprach danach wieder mit uns über Beweismaterial oder das Verfahren. Von Rechtsanwälten war nicht speziell die Rede, nur von gesetzlichen Vertretern. Am Vortag der Gerichtsverhandlung gaben sie uns einen kleinen Zettel als Vorladung, auf dem unser Name und unsere Adresse stand.
Die Gerichtsverhandlung fand neun Monate, nachdem wir am 14. Januar 1989 nach Gutsa eingeliefert wurden, statt. Wir sechs Angeklagten wurden an diesem Morgen zusammen zu dem Prozeß gebracht, jeder von uns von zwei Milizen mit Waffen am Gürtel eskortiert, die weiße Handschuhe trugen. Der ganze Platz vor dem Gefängnis war von Soldaten gesäumt. Auch befanden sich drei große Militärlastwagen mit schußbereiten Gewehren dort. Die Soldaten hielten uns die Arme hinter dem Rücken fest. Wir wurden in einem Bus voller Soldaten transportiert, dessen Fenster verdunkelt waren, so daß wir nicht hinaussehen und keiner hineingucken konnte. Drei Lastwagen voll Soldaten fuhren vor uns und drei hinter uns. Das militärische Aufgebot war so groß, daß wir dachten, sie würden uns vielleicht zur Hinrichtung bringen. Wir wurden jedoch zu einem großen Militärstützpunkt namens Wuji Tsongdu oder "der Versammlung der bewaffneten Volkspolizei", genau unterhalb des Chakpori Hügels und etwa 35 Minuten Fahrzeit vom Gefängnis entfernt, gefahren.
Als wir diesen Komplex erreichten, wurde öffentlich verkündet, daß wir schwere Verbrechen begangen hätten, denn wir hätten einen Polizisten tot geschlagen und einen reaktionären, separatistischen Zirkel geführt. Etwa 500 Personen, die Einlaßpapiere bekommen hatten, wurden als Zuschauer zu dieser Verhandlung zugelassen. Ich denke, sie wurden hauptsächlich aus den Bediensteten des Militärstützpunkts ausgewählt. Der Prozeß fand in einem großen Saal innerhalb dieser Militärbasis statt. Als wir aus dem Bus stiegen, sahen wir, daß an allen Fenstern dieses Saales Soldaten standen. Außerhalb des Geländes waren Scharen von Leuten, die versuchten uns Speise und Trank zu reichen. Wir konnten sie rufen hören, sie würden demonstrieren, falls man uns nichts zu essen und zu trinken gebe. Aber diese Leute durften den Gerichtshof nicht betreten. Die Chinesen befürchteten nämlich, daß die Leute in dem Saal anfangen könnten zu protestieren. Deshalb war der Zuhörerraum völlig von Soldaten mit schußbereiten Pistolen umgeben. Ich schätze, daß etwa 300 bis 400 Soldaten und bewaffnete Volkspolizisten, einschließlich der tibetischen und chinesischen Sicherheitsbeamten in dem Saal waren. Wir wurden vor das "Volks-Disziplinar-Gericht", das höchste Gericht Tibets, gestellt.
Dieses Gericht bestand aus elf Männern in Militäruniform, die an einem Tisch auf einem Podium saßen. Wir wurden einer nach dem anderen zur Verhandlung unseres Falles hereingebracht. Ich war der letzte. Der Mann in der Mitte war der Vorsitzende und höchste Richter, er hieß Bu Dawa. Er erklärte, daß sie nun die Fakten über uns vortragen würden, und wir, falls wir nicht einverstanden seien, das Recht hätten, uns entsprechend zu äußern. Er fuhr fort, daß tibetische Unabhängigkeit niemals kommen würde, und wir uns nur Leiden einhandeln würden, wenn wir um sie kämpften. Und in bezug auf die Demonstrationen sagte er, wir würden Steine aufheben, die am Ende nur uns selbst zerstörten.
Während des Gerichtsverfahrens sagte man uns, wir könnten die Anklagen gegen uns abstreiten, dürften aber nichts über die Mißhandlungen sagen, und als wir versuchten, darüber zu reden, wurden wir sogleich unterbrochen. Als von meinem Geständnis die Rede war, erklärte ich sofort, daß es unter Folter erfolgte, aber ich wurde daran gehindert, weiter zu reden. Allen von uns gelang es jedoch, auszusprechen, daß unsere Geständnisse unter Folter erzwungen worden waren. Ich sehe noch Sonam Wangdu vor mir, der diese Worte in dem Augenblick sprach, als er bereits von dem Anklagestand weggezogen wurde.
Wir sechs hatten keine Gelegenheit, uns vor dem Beginn der Verhandlung zu besprechen, und als wir versuchten, im Gerichtssaal miteinander zu sprechen, wurden wir in Handschellen gelegt und getrennt.
Als ich an der Reihe war, berichtete der Vorsitzende der ganzen Zuhörerschaft über meine Verbrechen. Eine viertel Stunde lang sprach er ausführlich über meine Beteiligung an regierungsfeindlichen Aktivitäten. Ich hätte im Anschluß an das Monlam Fest am 5. März nach tibetischer Unabhängigkeit gerufen, ich hätte Steine auf die Sicherheitskräfte geworfen, ich sei an dem Mord an dem Sicherheitsbeamten und am Anzünden des Polizeiwagens beteiligt gewesen und hätte die anderen mit meinen Parolen angeführt.
Dann versuchte ich ihnen etwas über die Unabhängigkeit zu erklären, doch die Soldaten an meiner Seite verwehrten mir dies. Als ich etwas in das Mikrophon vor mir sagen wollte, rissen sie mich weg. Sie zogen mich etwa zwei Meter nach hinten, wobei sie mich schmerzhaft an der Seite packten. Alle sahen dies, und die Tibeter im Auditorium riefen: "Laßt ihn sprechen! Ihr erzählt ja nur eure Version von dem, was geschehen ist!"
Zweimal versuchte ich zu sagen: "Wo ist der Beweis für eure Behauptung, daß ich diese Dinge getan habe?" Ich konnte gerade noch die Frage stellen: "Wo sind die Zeugen?" Die Chinesen hatten nichts, was sie als Beweismaterial hätten vorweisen können, und wir durften nicht als Zeugen füreinander stehen. Ich merkte wirklich nichts von einer rechtmäßigen Gerichtsverhandlung und ich glaube auch gar nicht, daß es bei den Chinesen so etwas überhaupt gibt. Sie legen einfach die Informationen vor, die sie haben wollen, und verdrehen die Dinge so, daß sie in ihre Linie passen. Es gab überhaupt keine Beweise gegen uns.
Die Gerichtsverhandlung wurde auf Chinesisch geführt, und Bu Dawa sprach durch einen Dolmetscher. Als die Tibeter hörten, wie er unsere Verbrechen aufzählte, johlten sie und verlangten, daß man uns ungehindert sprechen lassen solle.
Nach mir kam Lobsang Tenzin an die Reihe. Er sagte, das chinesische Gesetz sei nichts als Lügen und Geständnisse würden durch Folterungen herausgepreßt. Er zitierte das Gesetzbuch und sagte, sie hätten kein Beweismaterial, um ihre Anklagen gegen uns zu belegen. Als er geendet hatte, brach der Saal in Applaus aus. Dann sprach wieder der Vorsitzende, der von der Menge ausgepfiffen wurde. Er sagte, daß Lobsang Tenzin nicht so reden dürfte, und die Soldaten schritten zur Tat und stoppten ihn. Während dies geschah, erhob Sonam Wangdu seine Stimme und sprach über die Mißhandlungen im Gefängnis, aber auch er wurde am Weiterreden gehindert. Ich versuchte wieder, etwas zu sagen und ebenso die anderen. Ich weiß nichts über das Gesetz, aber ich konnte etwas über die grausamen Mißhandlungen sagen. Dann legten sie uns allen Handschellen an und führten uns aus dem Saal hinaus.
Nach dieser ersten Sitzung, bei der wohl unsere Verbrechen erwiesen werden sollten, wurden wir durch eine Seitentür in einen großen Hof gebracht, wo wir schrecklich geschlagen wurden. Etwa 20 Soldaten mißhandelten jeden von uns mit Gewehrkolben und Metallstangen und traten nach uns.
Ich meine, daß die Gerichtsverhandlung etwa anderthalb Stunden dauerte. Die Atmosphäre in dem Raum war sehr geladen. In separaten Autos wurden wir dann ins Gefängnis zurückgefahren. Lobsang Tenzin und ich wurden in einem kleinen Auto mit vier mit Maschinengewehren bewaffneten chinesischen Soldaten zurückgeschickt. Bei der Fahrt preßten sie unsere Köpfe nach unten. Wir befanden uns in einer sehr schlimmen Lage, und ich dachte, sie würden uns umbringen. Ich versuchte, meinen Kopf zu heben, aber sie schlugen mich ins Gesicht und preßten meinen Kopf, den sie mit einem auf jedes meiner Ohren gelegten Gewehr festhielten, wieder nach unten.
In der Nacht kamen wir wieder in Einzelzellen und am nächsten Tag wurden wir zurück zum Gericht gebracht. An diesem Tag wurden im ganzen zwölf Häftlinge aus Gutsa vor Gericht gestellt, darunter auch wir sechs vom Vortag. Die anderen waren vier Nonnen, eine schwangere Frau Mitte dreißig und eine alte Frau. Tsering Dorje, Pempa Rinzin und Tsering Nyima wurden in einem PKW zum Gericht gebracht, und die übrigen, darunter auch ich und die Frauen, in einem Kleinbus.
An diesem Tag wurden auch noch andere Ganden-Mönche aus dem Seitru Gefängnis bei Lhasa, in dem sie eingesperrt waren, zum Gericht gebracht, nämlich: Yulu Dawa Tsering, 60, zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, Tenpa Wangdrak, 49, mit 14 Jahren Haft, Phuntsok Gyaltsen, 37, mit einer 12-jährigen Strafe, Gyadar, 35, mit 10 Jahren Haftstrafe, Tsondru Tharchin, 41, mit 8 Jahre Haftstrafe, Kunsang Tsering, 35, mit 7 Jahren Haftstrafe, Chungdak, 28, mit 5 Jahren Haftstrafe, Tsering Sonam, 26, mit 4 Jahren Haftstrafe, Tashi, 20, mit 3 Jahren Haftstrafe, die später auf 12 ½ Jahre verlängert wurde, Pasang, 22, ohne Urteil, Sonam, 19, ohne Urteil, Palden, 25, ohne Urteil, Tsering, 26, mit 4 Jahren Haftstrafe, und Thupten Tsering, 61, mit 10 Jahren Haftstrafe. Alle waren aus Ganden, außer Thupten Tsering, der aus dem Kloster Sera kam.
Wir wurden alle zusammen in den Gerichtshof geführt. Dieselben Beamten saßen auf dem Podium mit demselben Auditorium im Saal wie am Vortag. Diesmal waren jedoch noch weitere 20 Mann auf dem Podium, so daß es im ganzen 31 waren.
Ich denke, daß an diesem Tag etwa 26 Häftlinge im Gerichtssaal waren, einschließlich jener von Seitru. Unsere Verbrechen wurden verlesen und daraufhin die Strafurteile, was eineinhalb Stunden dauerte. Ich wurde wegen Totschlags eines Polizisten, Steinewerfens auf den Polizisten und Teilnahme an der Demonstration vom 5. März verurteilt. Alle Leute in dem Saal wußten, daß dies eine Farce war und daß die verlesenen Vergehen nicht einmal so recht den ursprünglichen Anklagen entsprachen. Es wurde ja auch nie richtig der Versuch gemacht, ein ordentliches Verfahren durchzuführen. Ich wurde zu Gefängnis vom 18. April 1988 bis zum 18. April 1991 verurteilt. An diesem Tag durften wir überhaupt nichts sagen, und auch die Zuhörer wagten nicht einen Mucks zu tun.
Die Urteile fielen folgendermaßen aus: Todesurteil für Lobsang Tenzin, Vollstreckung innerhalb von zwei Jahren; lebenslänglich für Sonam Wangdu; 15 Jahre Gefängnis für Gyaltsen Choephel; 10 Jahre Gefängnis für Tsering Dondrup; 5 Jahre für Tamdrin; und 3 Jahre für mich. Das Urteil von Lobsang Tenzin, der wegen der internationalen Aufmerksamkeit, die sein Fall erregte, noch am Leben ist, wurde später in lebenslänglich umgewandelt. Nach der Verlesung unserer Urteile hieß es, falls wir nicht damit einverstanden wären, könnten wir dies sagen.
Nach der Verkündigung unserer Urteile wurden wir wieder brutal geschlagen. Sie mißhandelten uns mit Gewehrkolben, Fußtritten und Faustschlägen. Am Ende sahen wir wie Leichen aus und fühlten uns auch so. Sonam Wangdu wurde in der Nierengegend auf den Rücken und in die Rippen getreten und so fürchterlich zusammengeschlagen, daß er sich zusammenkrümmte und schaumiges Blut aus seinem Mund kam. Sonam Gyalpo (dessen Urteil am selben Tag wie unseres verkündet wurde) wurde von einer Gewehrspitze neben dem Auge verletzt, so daß es sehr geschwollen und blau war.
Dann wurden wir zurück ins Gefängnis gebracht, und einen Monat lang wurden wir sechs im gleichen Flügel des Gefängnisses in Einzelhaft gehalten. Man erklärte uns, daß wir 10 Tage Zeit hätten, um Beschwerden niederzuschreiben. Vier von uns taten es, aber Tamdrin und ich verzichteten darauf. Ich schrieb nichts, weil ich wußte, daß es keinen Zweck gehabt hätte, und ich befürchtete auch, daß es obendrein irgendwie gegen uns benutzt werden könnte. Ich denke, daß die vier, die appellierten, verlangten, die Beweise gegen sie zu sehen. Die Ablehnungsbriefe kamen 20 Tage später. Jeder bekam einen Brief, sogar Tamdrin und ich, obwohl wir gar keine Berufung eingelegt hatten. Der Brief besagte, daß die Entscheidung, die vom Gericht gefällt wurde, endgültig ist.
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Teil 8 |
Gefängnisleben und Entlassung
Am 14. April 1989 wurden wir sechs in das Drapchi Gefängnis von Lhasa, das größte Gefängnis Tibets, verlegt.
In Gutsa hatten wir gewöhnliche Kleidung an, aber in Drapchi mußten wir blaue Gefängnisuniformen tragen, die aus einem einzigen großen Stück dünnen Baumwollstoffs bestanden, das um den Körper gewickelt wurde. Darunter trugen wir ein dünnes Baumwollhemd; außerdem bekamen wir ein großes Paar Stiefel. Diese Art der Uniform sollte wohl absichtlich die Gefangenen entwürdigen. Sie gaben uns auch einen Hut aus sehr grobem Baumwollstoff. Als wir ankamen, erklärten sie uns, wir seien da wegen Diebstahl und Totschlag. Später erfuhren wir, daß die Gefängnisaufseher vor unserem Eintreffen eine Versammlung einberufen und die anderen Gefangenen gewarnt hatten, nicht mit uns zu verkehren und unser Essen nicht anzurühren. Wenn sie das täten, so könnten sie sich mit unseren Krankheiten und unserem kriminellen Wesen anstecken. Außerdem würden wir ihnen nur schlechte Dinge beibringen.
Dennoch freuten sich die anderen Gefangenen sehr, uns zu sehen. Sie teilten sofort ihren Tee mit uns und bezeichneten uns sehr ehrerbietig als kusho, was eine höfliche Anrede für Mönche ist.
Ich wurde in Einheit zwei gesteckt. In jeder Einheit gab es 13 Zellen. Die anderen unserer Gruppe waren in Einheit eins und vier. Einheit drei war nur für Frauen da. In meiner Einheit waren zwischen 75 und 100 Gefangene, von denen nur 6 Chinesen waren, der Rest Tibeter. Ich und die Leute meiner Einheit wurden wie jene von Einheit zwei zum Steinebrechen und Verlegen von Ziegelsteinen eingesetzt. Die Gefangenen in Einheit eins mußten Gemüse pflanzen, und jene in Einheit vier mußten die Erde in einer Apfelplantage umgraben.
In meiner Abteilung taten die gewöhnlichen tibetischen Gefangenen alles, um mir das Leben zu erleichtern. Sie waren so stolz auf mich, daß sie mich nicht arbeiten lassen wollten. Nach einer Weile kriegte die Gefängnisaufsicht das spitz und ermahnte die politischen Gefangenen, härter zu arbeiten, denn wir seien ja die eigentlichen Verbrecher. Auch brachten uns die Leute von Lhasa viel zu essen, etwa Fleisch, Butter und tsampa, sowie Schweinefleisch in Büchsen. Sie brachten eine ganze Menge, denn Nahrungsmittelgeschenke waren zu jener Zeit in Drapchi erlaubt; zwar durften wir diese Sachen nicht in unseren Zellen essen, nur in einer überwachten Zone. Dort breiteten wir die Nahrungsmittel aus und teilten sie mit den anderen Gefangenen. Die Leitung versuchte, dies den nicht-politischen Gefangenen zu verleiden, indem sie ihnen sagte, daß sie die "Speise der Geächteten" essen würden. Trotzdem versuchten diese Gefangenen, uns die Dinge zu erleichtern, indem sie etwa unsere Kleider wuschen - so stolz waren sie auf unseren Freiheitskampf. Dies ging etwa knapp ein Jahr so.
Die Chinesen behaupten, die politischen Gefangenen würden gut behandelt. Tatsache ist jedoch, daß sie uns absichtlich schlechter als die anderen behandelten. Bei den monatlichen Umerziehungszusammenkünften saßen die nicht-politischen Gefangenen auf Stühlen, während wir auf dem bloßen Fußboden hocken mußten. Der Zweck dieser Versammlungen war, die chinesische Version der tibetischen Geschichte zu studieren. Sie gaben uns Zeitungen und Zeitschriften für etwa 14 Tage zum Lesen und danach stellten sie uns Fragen wie "Ist Tibet unabhängig oder nicht?". Die Zeitung war meistens das Tibet Daily, die hauptsächlich die Ansichten der chinesischen Obrigkeit wiedergibt. Sogar gewöhnliche Gefangene mußten diese politischen Fragen beantworten, und das ganze Gefängnis, über 600 Personen, war bei diesen "Meetings" anwesend. Die Chinesen sagten, daß es nicht zur tibetischen Unabhängigkeit kommen dürfe und daß sie schlecht für uns sei. Die Unabhängigkeit würde das alte tibetische Gesellschaftssystem wiederbeleben, wo nur ein paar Wohlstand genossen hätten, das Leben für die Mehrheit der Bevölkerung aber fürchterlich gewesen sei. Sie sagten, daß wir mit allen separatistischen Aktivitäten Schluß machen müßten.
Irgendwann im April 1989 kam heraus, daß Lobsang Tenzin, Tashi, Migmar Tashi und Dawa Einzelheiten über das Leben im Gefängnis und ihre Argumente für die Unabhängigkeit Tibets zu Papier gebracht hatten. Daraufhin wurden sie fort gebracht und einen Monat lang in anderen Haftanstalten verhört. Als sie zurückkamen, waren ihre Füße gefesselt.
Am 17. Mai 1989, kurz nachdem diese vier wieder in Drapchi eintrafen, beriefen die Chinesen eine Versammlung aller Gefangenen ein, zu der sie außerdem noch viele aus anderen Gefängnissen der Gegend holten. Dabei und unter dem Eindruck einer großen und drohenden Militärpräsenz beschrieben sie dann ausführlich die Verbrechen dieser vier Männer. Das Strafmaß von Tashi wurde von drei auf zwölfeinhalb Jahre erhöht. Ein ganzes Jahr lang mußte er Fußschellen tragen und mit dieser Fessel an den Beinen auch noch arbeiten. Infolge der anhaltenden Schläge, die er bekam, war er schließlich von der Hüfte an abwärts gelähmt. Er wurde schließlich in ein Krankenhaus eingeliefert, wo er sechs Monate lang bewußtlos lag. 1993 wurde er dann auf Bewährung entlassen und zu seiner Familie nach Hause geschickt. Die Chinesen konnten Lobsang Tenzin nicht weiter verfolgen, weil es eine Menge internationaler Aufmerksamkeit für ihn gab, aber die anderen zwei Dawa (21) und Migmar Tashi (19) sollten an diesem Tag hingerichtet werden. Der Ort war voller Soldaten, als diese zwei die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden hinausgeleitet wurden. Sie lächelten, als sie abgeführt wurden. Noch lange Zeit danach waren wir alle sehr niedergeschlagen.
Viele politische Gefangene waren inzwischen in das Drapchi-Gefängnis verlegt worden. Weil die Behörden der Ansicht waren, daß wir die anderen Gefangenen "infizieren" würden, wurde nun die Einheit fünf geschaffen, in der alle politischen Gefangenen, 85 an der Zahl, zusammengefaßt wurden. Von dieser Zeit an durften wir nicht mehr mit den anderen Gefangenen sprechen oder ihnen etwas geben. Ich war zwei Jahre lang in Einheit fünf eingesperrt.
Nach der Schaffung von Einheit fünf, und vor allem infolge der Entdeckung der politischen Niederschriften, mußten wir etwa 20 Tage lang die chinesische Version der tibetischen Geschichte lernen. Wenn wir anderer Meinung waren, wurden wir gefesselt oder gezwungen zu rennen und geschlagen. Aber dennoch widersprachen alle irgendwann einmal während der 20-tägigen Indoktrinierung. Die ersten, die Einwände erhoben, wurden arg mißhandelt, sie waren die tapfersten. Danach fiel es den Chinesen schwer, einzelne herauszugreifen, weil wir alle anderer Meinung waren als sie.
Als Teil der täglichen Routine mußten alle politischen Gefangenen von 6 bis 8.30 morgens um einen Sportplatz herum rennen. Auch die Alten und Kranken mußten laufen, und wenn jemand nicht mehr Schritt halten konnte, dann wurde der elektrische Schlagstock an seinem Anus eingesetzt. Sonam Wangdu war durch die Mißhandlungen vor Gericht so zugerichtet, daß er nur noch gebückt und mit Hilfe eines Stockes gehen konnte. Eines Morgens sah ich, wie sie ihm den Stock wegnahmen und im Küchenherd verbrannten und ihn etwa 15 Minuten lang mit Faustschlägen und Fußtritten traktierten. Sie behaupteten, er würde seine Gebrechen nur vortäuschen. An diesem Tag mußte er, während alle anderen zu Mittag aßen, die Frauentoiletten leeren. Ich und andere versuchten ihm zu helfen, aber die Wärter schlugen uns. Eines Morgens wurde er in die Apfelplantage gebracht, wo er schwer geschlagen und mit dem elektrischen Schlagstock bearbeitet wurde. Wir hörten ihn nach seiner Mutter rufen und flehen, ihn gleich ganz umzubringen. Als wir dann zur Arbeit gingen, sahen wir, wie sie ihn ins Gesicht schlugen. Wir waren alle sehr bestürzt von dem Anblick und weinten. Oftmals wurde Sonam Wangdu für die schlimmsten Prügel herausgegriffen, weil er als politisch noch unerwünschter galt als wir und außerdem ein lebenslanger Häftling war.
Ein weiteres Exempel dieser Art von Mißhandlung erfuhr Dawa, ein Mönch des Klosters Ratoe, der sein zugewiesenes Stück Arbeit in der Obstplantage nicht fertig brachte. Er wurde geschlagen und mußte zur Strafe drei Stunden lang stramm dastehen.
Etwa um halb zwölf nach der Morgenarbeit bekamen wir Mittagessen, und am Nachmittag sollte eigentlich eine Pause sein, aber die politischen Gefangenen bekamen keine. Statt dessen mußten wir von 12 Uhr Mittag bis halb zwei in der Apfelplantage rennen. Wer nicht laufen konnte, wurde mit Elektroschocks gepeinigt. Dawa erhielt Schocks am ganzen Gesicht. In unserer Gruppe gab es auch kranke und alte Leute, die ebenso geschlagen und mit Elektroschocks gepeinigt wurden, wenn sie nicht rennen konnten. Unser Tagesablauf war so anstrengend, daß einige auf dem Rückweg von der Arbeit Blut spuckten und andere ohnmächtig umfielen.
Eines Nachts im Winter stürmten ohne ersichtlichen Grund plötzlich sechs chinesische Polizisten in unsere Zelle und holten fünf politische Gefangene heraus. Ich glaube, sie waren betrunken. Sie nahmen Tenzin Phuntsok, Choephel Tsering, Tsering Sonam, Tsering Dorje und Lhakpa Tsering mit sich. Tenzin Phuntsok wurde mit einem Gewehr auf die Schultern geschlagen, so daß er vor Schmerzen aufschrie. Tsering Dorje zogen sie bis auf die Unterhosen aus, banden seine Arme auf den Rücken und trieben ihn mit dem Elektroschlagstock an, eine halbe Stunde lang zu rennen. Lhakpa Tsering mußte auf spitzen Steinen laufen, bis seine Füße bluteten. Die anderen wurden schwer geschlagen.
Im Sommer 1990 kündigten die Chinesen an, daß wir ärztlich untersucht würden, was viele von uns sehr nötig hatten, und daß jene, die wirklich krank seien, behandelt würden. Dann brachten sie uns in die Krankenstation und entnahmen uns Blut aus der Ellenbeuge unseres linken Armes. Ich erinnere mich, daß die Flaschen 3 Zoll lang und 1 Zoll im Durchmesser waren. Aber keiner wurde ärztlich behandelt zu dieser Zeit. Danach sagten sie, wir sollten unseren Tee zuckern, bevor wir ihn trinken. Thupten Tsering und Lobsang Tsondru (ein Mönch in den Siebzigern) wurden durch diese Blutentnahme so schwach, daß sie zu Bett gebracht werden mußten. Sonam Wangdu ging es auch sehr schlecht, und den meisten von uns war schwindlig. Nur Tibeter wurden diesen Blutentnahmen unterzogen, chinesische Gefangene mußten kein Blut spenden. Als Erklärung hieß es, das chinesische Blut würde "nichts taugen". Jeder tibetische Gefangene war gezwungen, Blut zu spenden. Es wurde geflüstert, daß das so abgezapfte Blut für das chinesische Militär bestimmt sei. Als die Bevölkerung in Lhasa davon hörte, gab es einen Aufschrei mit dem Ergebnis, daß einige chinesische Ärzte in das Gefängnis geschickt wurden, um medizinische Untersuchungen bei den Gefangenen vorzunehmen. Sie registrierten Gewicht und Körpergröße der Gefangenen, machten Elektrokardiogramme und maßen unsere Herzfrequenz.
Etwa um diese Zeit wurde Lhakpa Tsering, der die "Schneelöwe" genannte politische Gruppe gegründet hatte und einer der Anführer der Demonstration in Lhasa am 5. März 1989 gewesen war, sehr krank. Er war von der Gutsa-Haftanstalt nach Drapchi gebracht worden. 1990 wurde er in Gutsa so schwer geschlagen, daß er heftige Bauch- und Rückenschmerzen hatte. Das hörte ich von ihm selbst. Um den 7. oder 8. Dezember herum klagte er über unerträgliche Schmerzen, und die anderen Gefangenen verlangten medizinische Behandlung für ihn. Das Gefängnispersonal entgegnete, wir seien Separatisten und es geschehe uns recht, wenn wir stürben, und daß er nur leide, weil er etwas Schlechtes gegessen hätte.
Schließlich wurde er in die Krankenstation gebracht und bekam eine Spritze. Andere politische Gefangene, die Zeugen waren, sagten, daß er mit der Injektionsnadel wie ein Tier gestochen wurde. Lhakpa Tsering sagte dem Arzt, daß er kein tsampa essen könne, weil es zu schwer verdaulich sei, nur Reiswasser. Darauf bekam er als Antwort: "Als du auf die Demonstration zogst, hast du doch allen Tsampa-Essern zugerufen, mitzumachen (eine tibetische Redensart), so kannst du auch jetzt dein tsampa essen".
Am 10. Dezember wurde er in das Polizei- und Militärhospital verlegt, wo er bis zum Abend des 14. Dezembers blieb. Ich hörte, daß er eine weitere Injektion und Arznei bekam und es ihm daraufhin besser ging und er herumlaufen konnte, aber kurz bevor er ins Gefängnis zurückgebracht werden sollte, trat Blut und Schaum aus seinem Mund und er wurde sehr hinfällig. Um halb elf in jener Nacht erbrach er eine Menge Blut und starb darauf in der Sanitätsstation des Gefängnisses.
Als in der Nacht des 14. Dezember zwei chinesische und zwei tibetische Gefangene aus unserer Einheit heimlich beauftragt wurden, sein Blut aufzuputzen, hörten wir zufällig, wie die Polizisten, die sie holen kamen, ihnen zuflüsterten, daß der Mönch aus Drepung (Lhakpa Tsering) in der Krankenstation vielleicht schon gestorben sei. Am Morgen des 15. fanden auch die übrigen heraus, daß er tot war.
Wir waren äußerst aufgewühlt über diese Nachricht. Lhakpa Tsering war ein guter, fähiger und bei allen beliebter junger Mann. Wir dachten, daß wir auch auf diese Weise sterben könnten, und weil wir glaubten, ohnehin nichts mehr verlieren zu können, begannen wir einen Protest und traten in den Hungerstreik. Wir nahmen Bettücher, auf die wir schrieben "Wir gedenken des verstorbenen Lhakpa Tsering und fordern, daß die Folterung der politischen Gefangenen eingestellt wird". Wir wollten um den Tod Lhakpa Tserings trauern können. Lobsang Tenzin und Jampel Tsering führten den Protest an. Als die Gefängniswärter an jenem Tag kamen, sagten wir, daß wir demonstrierten und eine Reihe von Forderungen an sie hätten. Erstens, wollten wir einen Blick auf Lhakpa Tserings Leiche werfen, weil dies zu unserer kulturellen Tradition gehörte, zweitens wollten wir wissen, ob die Chinesen uns überhaupt als Menschen betrachteten, weil sie uns nicht als solche behandelten, drittens forderten wir einen Zeugen bei Lhakpa Tserings Bestattung, und viertens verlangten wir, daß das ganze Sanitätspersonal, das am Tod von Gefangenen beteiligt ist, und ebenso jene, die unsere Menschenrechte mit Füßen treten, von Leuten ersetzt würden, die diese achten. Wir hatten uns schon oft in der Vergangenheit darüber beschwert, aber nichts wurde jemals dagegen unternommen. Wir sagten, daß alle diese Punkte noch am selben Tag geregelt werden müßten. Als Antwort entgegneten die Wärter, es sei illegal, im Gefängnis zu protestieren. Wir antworteten darauf, daß wir dies nicht täten, um ein Gesetz zu übertreten, sondern weil wir in diese Lage gezwungen worden seien, und daß sie einmal darüber nachdenken sollten, wie sie uns behandelten. Offensichtlich war dies das erste Mal, daß Gefangene in einem unter chinesischer Herrschaft stehenden Gefängnis einen Hungerstreik veranstalteten.
Wir bekamen Lhakpa Tserings Leiche nicht zu Gesicht. Sie fragten, warum wir sie sehen wollten. Wir antworteten, daß dies in unserer Kultur so Sitte sei. Wir traten in Hungerstreik, bis uns die Chinesen am Ende des Tages baten, zu essen. Wir schrieen, daß die Chinesen ihn vergiftet hätten, worauf sie schließlich zustimmten, daß wir einen Zeugen zu der Bestattung in der Nähe von Kloster Sera schicken könnten. Lhakpa Tserings Körper wurde zuerst seiner Familie übergeben, wie das der Brauch ist, aber erst, nachdem wir mit einem weiteren Protest gedroht hatten. Sie holten Sonam Wangdu, mich und noch ein paar der älteren politischen Gefangenen, um die Leiche vorher zu besichtigen, wie uns versprochen worden war, aber der Leichnam war nicht dort. Wir sahen nur die blutverschmierte Bahre, auf der Lhakpa Tsering wohl gelegen hatte. Offensichtlich war sein Körper bereits zu der Bestattungsstätte hinter dem Sera Kloster gebracht worden. Offiziell dabei waren einer der Militärrichter, ein Tibeter vom tibetischen Medizininstitut und der Mann, der traditionell die Leichen zerschneidet und sie an die Geier verfüttert. Wir hörten später, daß die Lippen, Nägel und das Zahnfleisch der Leiche schwarz waren, und daß es Zeichen von Prellungen gab mit Blutgerinnseln unter der Haut und Darmverletzungen. Im Grunde genommen war nichts mehr an ihm heil geblieben. Daraufhin erschienen in Lhasa Plakate auf den Mauern, auf denen stand, daß Lhakpa Tsering durch Gift ermordet wurde; beinahe hätte es einen größeren Protest gegeben, den die Chinesen aber zu verhindern wußten. Wir Gefangenen hatten jedoch das Gefühl, etwas erreicht zu haben, wir fühlten uns besser, und die Dinge entspannten sich ein wenig.
Einige Monate später wurden vier von uns, die bei sehr schlechter Gesundheit waren (Sonam Wangdu, Tsering Dondrup, Tashi Tsering und ich) in das Hospital außerhalb des Gefängnisses gebracht. Ich befand mich gerade dort, als am 7. April 1991 eine amerikanische Delegation das Gefängnis besichtigen kam. Später erfuhr ich, was dabei geschah. Vor dem Eintreffen der Delegation wurden die kriminellen (nicht-politischen) Gefangenen in Einheit vier neu eingekleidet, sie durften Würfel spielen und wurden auf Unterrichtsstunden an diesem Tag vorbereitet. Die wirklichen politischen Gefangenen hingegen wurden während der Zeit des Besuches verborgen gehalten. Sie schlossen Einheit fünf ab und gaben vor, die politischen Gefangenen seien in Einheit vier untergebracht. Der Delegation erzählten sie, diese Gefangenen hätten, was ihre vergangenen Taten anbelangt ihre Meinung geändert".
Unmittelbar bevor die amerikanische Delegation eintraf, gingen Lobsang Tenzin und Tenpa Wangdrak in die zum Gefängnis gehörende Krankenstation. Sie hatten einiges über die Zustände im Gefängnis und den Tod von Lhakpa Tsering, Dawa und Migmar Tashi aufgeschrieben und sie beabsichtigten, diesen Brief der Delegation zu geben. Zu diesem Zweck waren sie zu der Krankenstation gegangen, um näher an der Stelle zu sein, wo die Amerikaner wahrscheinlich vorbeikommen würden. Vom Augenblick ihres Eintreffens an wurden die Amerikaner von Unmengen Begleitern umringt und sorgfältig beobachtet. Als sie aber zur Einheit vier kamen, rannten Lobsang Tenzin und Tenpa Wangdrak auf sie zu und versuchten, ihnen die Information zu übergeben. Doch die chinesische Dolmetscherin schnappte ihnen den Brief weg. Als die Amerikaner das sahen, stellten sie die Chinesen zur Rede und fragten, ob sie so die Menschenrechte handhabten. Sie wollten wissen, wo die tatsächlichen politischen Gefangenen eingesperrt seien. Nach Weggang der Delegation und der Polizei wurden Lobsang Tenzin und Tenpa Wangdrak in Handschellen gelegt und in fensterlose Einzelhaftzellen gesperrt.
Am 9. April kehrte ich aus dem Hospital zurück. Meine zwei Gefährten waren immer noch in Einzelhaft, während die anderen politischen Gefangenen einen Protest vorbereiteten, um ihre Entlassung zu fordern. Ich wollte mich anschließen und sagte, wir steckten alle zusammen in dieser Bedrängnis und sollten daher zusammen siegen oder verlieren. Meine Freunde rieten mir jedoch davon ab, denn meine Haftstrafe sei beinahe zu Ende. Sie sagten, ich solle hinausgehen und der Welt kundtun, was in den Gefängnissen in Tibet vor sich geht. Alle weinten, als wir diese Sache besprachen. Sie sagten, es sei meine Pflicht zu versuchen, nach Indien zu fliehen, oder anderweitig mein Bestes zu tun, um der Außenwelt von dem zu berichten, was in Tibet passiert. 10 Tage später, am 18. April 1991, wurde ich entlassen.
Bereits kurze Zeit nach meiner Entlassung verschlechterten sich die Umstände in Drapchi noch mehr, und am 20. April, dem monatlichen Besuchstag, fanden die Proteste für die Freilassung Lobsang Tenzins und Tenpa Wangdraks statt. Ich erzählte den Leuten in Lhasa, daß im Gefängnis demonstriert würde, und die Gefangenen solange protestieren wollten, bis die zwei Männer aus ihrer Isolation befreit würden.
Als Penpa, Gyadar und Tenpa Phulchung die Verwandten und Freunde trafen, die auf Besuch kamen, riefen sie laut nach der Befreiung ihrer zwei Kameraden. Vor den Augen ihrer Verwandten wurden sie ergriffen und geschlagen. Nun wurden sie ebenfalls in Isolationszellen gesperrt: Ausmaß 1 x 2 m, mit Zementfußboden, ohne Fenster und Bett und einem Graben als Klo. Eine Woche später wurden alle fünf in Einzelhaft befindlichen Männer nach Powo Tramo, einem anderen Gefängnis in Kongpo, 350 km östlich von Lhasa, verlegt.
Deswegen gab es noch eine Demonstration im Gefängnis. Alle politischen Gefangenen schrien, daß sie, wenn diese fünf nach Kongpo abtransportiert würden, mit ihnen gehen würden. Soldaten wurden von dem nahe gelegenen Militärstützpunkt geholt, um den Protest niederzuschlagen. Sie traktierten die Gefangenen mit Fußtritten und schlugen sie mit Metallruten, Stöcken und Gewehren. Viele wurden schwer verwundet. 20 Gefangene wurden in Handschellen gelegt und in die finsteren Kerker gezwängt. 30 weitere wurden an den Fußgelenken gefesselt und alle bluteten. Alle fünf nach Kongpo Verschleppten befanden sich in bedrohlichem Zustand. Sonam Wangdu ging es besonders schlecht.
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Teil 9 |
Flucht nach Indien
Am Tag meiner Entlassung ging ich nach Lhasa, wo ich von meinem Vater und Freunden in Empfang genommen wurde. Ehe ich das Gefängnis verließ, belästigten mich die Wachen, schlugen mich und mahnten mich, ja nie mehr politisch aktiv zu werden. Als mein Vater die Spuren dieser Schläge und meinen Zustand sah, wurde er sehr traurig. Zusammen gingen wir zu dem Drapchi Tempel und beteten dort. Die Leute gaben mir viele khatags wegen meines Einsatzes für die Freiheit Tibets. Dann gingen wir zum Tsuklhakhang-Tempel, wo ich mich mit geweihtem Wasser wusch und wieder um die Befreiung meiner im Gefängnis zurückgebliebenen Freunde zu Buddha betete. Wir gingen auch zu den Klöstern Drepung und Sera und beteten überall für unsere Landsleute im Gefängnis, sowie für die Freiheit unseres Heimatlandes.
Gegen Abend fuhren wir in unser Dorf, wo ich von ganzen Scharen von zu Tränen gerührten Dorfbewohnern begrüßt wurde, die mir khatags umhängten und Weihrauch vor mir verbrannten. Drei Tage lang blieb ich bei meiner Familie: Das ganze Dorf fand sich bei uns ein, die Leute waren so glücklich über meine Rückkehr und so überrascht, mich lebendig wiederzusehen. In diesen ersten Tagen kamen viele Besucher in unser Haus, die Geschenke wie Butter, Tee und viele Eier brachten.
Danach begab ich mich nach Ganden, wo ich meine monastischen Studien fortsetzen wollte. Als ich in mein früheres Zimmer ging, sah ich, daß es inzwischen von zwei neuen Mönchen besetzt war. Ich betete im Klostertempel und ging dann zu dem Vorsteher, um ihn zu bitten, mich wieder aufzunehmen. Doch in dem Büro stieß ich auf chinesische Polizisten, die meinen Antrag ablehnten und mir erklärten, ich sei kein Mönch mehr, weil ich einen Polizisten umgebracht hätte. Als ich diese Worte hörte, wurde ich sehr traurig. Ich kehrte zu meiner Familie zurück und fühlte mich ohne Arbeit oder die Möglichkeit eines monastischen Lebens völlig verloren. Mein physischer Zustand war von der Zeit im Gefängnis immer noch sehr schlecht.
Nach etwa 10 Tagen begab ich mich nach Lhasa und suchte nach Arbeit. Ich konnte ein wenig Geld sparen, indem ich pujas für die Verstorbenen ausführte. Dann arbeitete ich in einem Restaurant. Unterkunft fand ich bei Freunden. Mein Lohn war sehr gering, nur 6 Yuan pro Tag, während ich etwa 1.000 benötigte, wenn ich den Weg nach Indien wagen wollte. So gab ich diese Arbeit nach kurzer Zeit wieder auf und begann, die tibetische Gemeinde und Klöster um Spenden zu bitten, was erfolgreicher war. Am 10. Juli hatte ich die 1.000 Yuan beisammen. Meine Mutter kam mich an diesem Tag besuchen, und ich informierte sie, daß ich auf eine kurze Pilgerfahrt zum Kloster Reting gehen wollte. Ich war sehr niedergeschlagen, weil ich wußte, daß dies unser letztes Beisammensein sein würde; ich gab ihr Reis und Butter aus meiner Küche, aber erzählte ihr nichts von meinem Vorhaben. Als sie Abschied nahm, um ins Dorf zurückzugehen, brach ich in Tränen aus.
Dann kaufte ich drei Paar feste Schuhe als Vorbereitung für die Reise. Drei Tage später verließ ich abends in einem LKW mit 17 anderen Tibetern, darunter einigen Mönchen und Nonnen, Lhasa. Unser erster Halt war Shigatse, eine große Stadt, die sehr gefährlich ist, denn viele Tibeter kommen dort auf ihrer Flucht nach Indien durch, und überall sind Soldaten auf der Jagd nach ihnen. Wir blieben nur eine Nacht dort und mußten uns in unserem Zimmer versteckt halten. Am nächsten Tag begannen wir den Fußmarsch, denn einen großen Teil der Strecke würden wir zu Fuß zurücklegen müssen. Bald kamen wir in die Berge, wo das Gehen anstrengend und es außerdem kalt war. Ich wurde krank und hatte große Schmerzen, Blut rann mir aus Nase und Mund. Eine Nacht schliefen wir unweit des Manasarovar Sees und dann in einem kleinen Kloster namens Sera, wo es angenehm warm war und wir tsampa Suppe bekamen. Dann gelangten wir in die hohen Berge, wo mir das Laufen so schwer fiel, daß die anderen meine Sachen tragen und mich an der Hand führen mußten. Es war außerdem sehr gefährlich und steil, mit Erdrutschen und herabstürzenden Felsbrocken; unterwegs sahen wir auch erfrorene Yaks.
Als wir uns der nepalesischen Grenze näherten, versagten meine Nieren, und ich war in einer solch schlechten Verfassung, daß ich die anderen bat, mich einfach liegen und meinem Schicksal zu überlassen, weil ich merkte, daß ich ein Hemmschuh für die Gruppe war. Ich bat sie, den Dalai Lama in meinem Namen zu grüßen, denn ich dachte, ich würde es nicht mehr schaffen, ihn sehen zu können. Aber meine Begleiter wollten mich nicht aufgeben und brachen in Tränen aus, als ich diesen Vorschlag machte. So schleppten wir uns weiter. Aus Sicherheitsgründen mußten wir bei Nacht gehen und uns am Tage verstecken. Ganz in der Nähe der Grenze hörten wir chinesische Soldaten auf Tiere schießen und bekamen große Angst. Wir beteten zu Tara, Palden Lhamo und dem Dalai Lama, uns zu beschützen, und schließlich gelangten wir nach Nepal. An der Grenze nahm uns die nepalesische Polizei unser letztes Geld und einige unserer Kleider ab. Sie drohte, uns zurückzuschicken, falls wir diese Dinge nicht herausrückten. Um diese Zeit waren unsere Essensvorräte zu Ende, und wir hatten großen Hunger. Wir tauschten noch unsere letzten Kleidungsstücke gegen Essen ein, und in den Restaurants aßen wir mit solchem Heißhunger und so viel, daß wir manchmal hinausgeworfen wurden.
Ein paar Tage nach Überschreitung der Grenze erreichten wir Kathmandu, wo wir zu dem Empfangszentrum für tibetische Flüchtlinge gingen. Es machte uns sehr glücklich, dort die tibetische Flagge frei hängen zu sehen.
Mein Körper war immer noch in so schlechter Verfassung, daß ich schier verrückt wurde, weshalb ich gleich ins Krankenhaus aufgenommen wurde. Dort wurde ich 10 Tage lang behandelt. Während dieser Zeit interviewten mich Vertreter der UNO, und es wurden von mir Photos für die Menschenrechtsarbeit gemacht. Als ich reisefähig war, sponserte das Flüchtlingszentrum einen Bus, und ich wurde zusammen mit anderen Flüchtlingen nach Delhi gebracht. Dort nahm sich das Empfangszentrum für Flüchtlinge meiner an und brachte mich in einem Krankenhaus in der tibetischen Siedlung unter. Viele Vertreter von Tibet Unterstützungsgruppen kamen mich besuchen, wie etwa vom Tibetischen Jugendkongreß und der Tibetischen Frauen Vereinigung. Damals besuchte mich auch der Bruder des Dalai Lama, der gerade auf einer Vortragstournee war, und ich konnte ein Video über die Verleihung des Friedensnobelpreises an den Dalai Lama sehen, was mich sehr glücklich machte.
Anschließend wurde ich nach Dharamsala gebracht. Als ich diesen Ort sah, konnte ich kaum glauben, daß ich mich tatsächlich in Dharamsala befand, über das ich schon so viel gehört hatte. Ich hatte nicht gewußt, daß es in den Bergen liegt. Dort sah ich Photos meiner Freunde, die noch im Gefängnis waren, und es war mir klar, daß ich mich am richtigen Ort befand. Dann wurde ich in das tibetische Delek-Hospiz aufgenommen, wo ich einen Monat lang gepflegt wurde und danach wurde ich noch 3 weitere Monate in dem Institut für Tibetische Medizin behandelt. Nach vier Monaten war ich schließlich soweit hergestellt, daß ich den Dalai Lama treffen konnte. Ich sprach über zwei Stunden mit Seiner Heiligkeit über die Lage Tibets, er umarmte mich, und ich mußte weinen. Der BBC war auch dort und filmte einen Dokumentarstreifen. Dank dieser Begegnung mit Seiner Heiligkeit verbesserte sich mein Gesundheitszustand, und ich begann in Indien herumzureisen und über meine Erlebnisse zu erzählen. Jampa Phuntsok, ein anderer politischer Gefangener, begleitete mich. Bei Dehra Dun sprachen wir zu 1.000 indischen Soldaten und wir hielten auch an anderen Orten Nordindiens Vorträge.
Nach Dharamsala zurückgekehrt, begann ich mein Studium an der Dialektik-Schule, aber bald erkrankte ich wieder schwer. Ich hatte TBC, meine Nieren waren auch noch angegriffen, und immer noch kam Blut aus meinen Genitalien. Folglich mußte ich noch einmal einen Monat ins Krankenhaus, wo mich ständige Alpträume von den Mißhandlungen quälten, so daß ich nachts oft schreiend und schluchzend aufwachte.
Im Dezember 1992 kam eine Vertreterin der UNO, die sich schon seit langem für Tibet engagierte, um mich zu interviewen, und als sie meinen Zustand sah, schlug sie vor, ich solle zu einer speziellen Behandlung nach Paris reisen. Sie organisierte die Übernahme der Kosten durch die Gattin des französischen Staatspräsidenten, und so flog ich im Juli 1993 nach Paris. Ich war überrascht, wie schön es dort ist. Die nächsten acht Monate wurde ich wegen all meiner gesundheitlichen Probleme in einem Pariser Krankenhaus behandelt.
Als mein Zustand sich gebessert hatte, begann ich zu den Franzosen über meine Erfahrungen zu sprechen. Ich trat in Universitäten und für das Fernsehen und vor Tibet Unterstützungsgruppen auf. Dann reiste ich durch ganz Europa und ging auch nach England, wo ich von Amnesty International und dem BBC empfangen wurde; überall berichtete ich, was mir und anderen Tibetern in Tibet angetan wurde. Eine Reihe von Jahren pendelte ich zwischen Dharamsala und Europa hin und her und hielt Vorträge hier wie dort. Immer hatte ich dabei die entsetzliche Lage der Tibeter in Tibet und meiner Freunde im Gefängnis vor Augen. Im Frühjahr 1997 ging ich nach Amerika, wo ich an 25 Schulen und Universitäten sprach.
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Teil 10 |
Ein Appell für Menschenrechte
Diese Broschüre ist nur eine kurze Wiedergabe von dem, was ich persönlich an unvorstellbar grausamer Folter und schrecklicher Mißhandlung tibetischer politischer Gefangener unter der Herrschaft der chinesischen Kommunisten erlebte und sah.
Nachdem Sie dieses Büchlein nun gelesen haben, bitte ich Sie, meine Leser, schreiben Sie an ihre jeweilige Regierung, den Generalsekretär der Vereinten Nationen und die UNO wegen der Lage in Tibet. Bitte teilen Sie Ihren Freunden und Bekannten Ihre Gedanken mit und versuchen Sie, die Welt auf den traurigen Zustand unseres Landes und seine wahre Geschichte aufmerksam zu machen. Tibet leidet entsetzlich und es ergeht ihm wie den wenigen Tigern, die es noch auf der Welt gibt und die vom Aussterben bedroht sind: Bitte reichen Sie mir Ihre Hand und lassen Sie uns gemeinsam versuchen, das Land und das Volk Tibets zu retten. - BAGDRO
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Teil 11 |
Gerichtsbeschluss
Der Prozeß für die sechs mutmaßlichen Mörder des chinesischen Polizisten Yuan Shisheng fand am 14. Januar 1989 statt, zehn Monate nach der Festnahme von fünf der Männer und neun Monate nach Bagdros Verhaftung.
Den Gerichtsvorsitz führte ein Tibeter namens Bu Dawa, der unter der Befehlsgewalt des politisch-rechtlichen Komitees der kommunistischen Partei stand. Das Gericht verurteilte Lobsang Tenzin zum Tode mit Aufschub der Hinrichtung um zwei Jahre, und die anderen drei, die es direkt mit dem Tod des Polizisten in Verbindung brachte, zu fünf, zehn und 20 Jahren Gefängnis.
Bagdro, dem angelastet wurde, er hätte den sterbenden Polizisten, nachdem dieser aus einem Fenster geworfen worden war, mit einer Eisenstange geschlagen, wurde nicht so sehr als Hauptschuldiger, sondern eher als Komplize behandelt und zu drei Jahren Haft verurteilt.
Das Gerichtsurteil scheint sich fast ausschließlich auf das Zeugnis eines überlebenden Opfers des tibetischen Angriffs am 5. März 1988 zu stützen, sowie auf die Geständnisse der sechs Angeklagten. Vermutlich handelte es sich dabei um den Polizisten Chang Yusheng, dessen Aussage in der Zeitung Tibet Daily vom 22. März 1988 veröffentlicht wurde. Andere Zeugen werden in dem Urteil nicht genannt, und es fehlt auch jeder Hinweis auf die Versuche der Angeklagten, kundzutun, daß ihre Geständnisse unter Folter erpreßt wurden.
Lobsang Tenzin wird kaum in dem Urteil erwähnt und wird auch nicht als der Hauptstraftäter beschrieben, obwohl der Gerichtshof über ihn die härteste Strafe verhängte. Alle Angeklagten erschienen ohne einen Rechtsanwalt zu ihrer Verteidigung vor Gericht. Lobsang Tenzin hatte zwei "Zeugen", die keine Anwälte waren, aber zu seiner Verteidigung auftraten, während die anderen fünf Männer sich selbst verteidigten.
Die folgende Übersetzung ist ein Auszug aus einem acht Seiten langen, auf Tibetisch geschriebenen Text, der das offizielle Siegel des Mittleren Gerichtshofes der Stadtverwaltung Lhasa trägt (TIN Ref: Doc 4/xp).
"Dokument über Untersuchung und Gerichtsbeschluß des Mittleren Gerichtshofes der Stadtverwaltung Lhasa, Autonome Region Tibet" (1989, Strafrechtliches Untersuchungsdokument der Stadt Lhasa No. 7, Vertreter der Anklage: Tsedron, Tashi Norbu):
"Am 14. Mai 1988 unterbreitete die Staatsanwaltschaft der Stadtgemeinde Lhasa in der Autonomen Region Tibet dem Gericht den Fall der Appellanten Lobsang Tenzin, Sonam Wangdu, Gyaltsen, Choephel, Tsering Dondrup, Tamdrin und Bagdro, angeklagt des Totschlags und konterrevolutionärer Aktivitäten (Anm.: TIN Update vom 15.5.99 berichtet, daß die fünf zuerst wegen Totschlags und konterrevolutionärer Aktivitäten angeklagt waren, der erste Gerichtsbeschluß aber verworfen und revidiert wurde, und der zweite Prozeß gegen die fünf und Bagdro, der im Januar 1989 stattfand, zu härteren Strafen führte).
Das Gericht ernannte Bu Dawa zum Vorsitzenden der Ermittlungen, Ngawang Sonam zum Untersuchungsrichter und Jampa Ngodrup zum zweiten Untersuchungsrichter. Diese drei Personen stellten den Rechtsausschuß der Verhandlung (wörtlich "Einfriedung des Gesetzes") dar, und Tenzin Kunga führte das Gerichtsprotokoll. Tsedron und Tashi Norbu von der Staatsanwaltschaft Lhasa waren die Vertreter der Anklage. Ngawang Thrinley und Kelsang Dawa sprachen zur Verteidigung von Lobsang Tenzin. Für die Verteidigung der Appellanten Sonam Wangdu, Gyaltsen Choephel, Tamdrin, Tsering Dondrup und Bagdro war keine Vorsorge getroffen, und sie verteidigten sich daher selbst.
Am 14. Januar 1989 schritten die Beauftragten dieses Gerichtes gemäß dem Gesetz zur Untersuchung des Strafbestandes der aufgezählten sechs Angeklagten. Sie lauschten den Ausführungen der Staatsanwaltschaft, hörten und notierten die Aussagen der Appellanten und berücksichtigten somit deren Aussagen. Folgende Fakten ergaben sich im Hinblick auf diesen Fall:
Am 5. März 1988 waren anläßlich der jährlichen Feier des Monlam Chenmo (Große Gebetszeremonie), wenn das Standbild von Gyalwa Jampa (Maitreya Buddha) in einer Prozession herausgeführt wird, Yuan Shisheng und Chang Yusheng von der Bewaffneten Volkspolizei um 8 Uhr früh auf ihrem Posten im dritten Stockwerk des Pomda-Tsang-Gebäudes. Etwa um 10.30 schrieen ein paar Separatisten revolutionäre Parolen nach 'Tibetischer Unabhängigkeit' und riefen einen Tumult hervor. Im Verlauf dieses Aufruhrs gelangten die Appellanten Sonam Wangdu, Gyaltsen Choephel, Tsering Dondrup und Tamdrin auf das Dach des Pomda Tsang Gebäudes, von wo aus sie Steine auf Yuan Shisheng und Chang Yusheng warfen, denen nichts übrig blieb, als auf den Balkon der dritten Etage des Gebäudes zu springen. Gleichzeitig brachte Sonam Wangdu zwei weitere Steine und schleuderte sie auf die zwei Polizisten, die auf dem Balkon gelandet waren. Ein Stein traf Yuan Shisheng im Nacken. Die zwei Polizisten hatten keine andere Wahl, als sich in die Toilette der dritten Etage einzuschließen. Die genannten Appellanten suchten dann nach den zwei Chinesen und lokalisierten sie schließlich in ihrer Falle (d.h. der Toilette). Der Appellant und seine Komplizen schlugen die Tür ein und droschen mit Steinen und Elektrostäben (die sie den Polizisten entwanden) auf Yuan Shisheng und Chang Yusheng ein. Chang Yusheng erlitt ernste Verletzungen, während Yuan Shisheng das Bewußtsein verlor und auf den Boden fiel. Während dieser Mißhandlungen schlug Sonam Wangdu zweimal Chang Yusheng mit einem Stein auf den Rücken, während Tsering Dondrup Chang Yusheng den Elektrostab wegriß und nicht nur wild auf ihn losprügelte, sondern dem Opfer auch seinen Helm wegriß und es heftig mit dem Elektrostab auf den Kopf schlug. Gyaltsen Choephel trat Chang Yusheng zweimal in den Bauch. Dann forderten Lobsang Tenzin, Gyaltsen Choephel und Tsering Dondrup und andere Chang Yusheng auf, aus dem Toilettenfenster zu springen. Nun packte Lobsang Tenzin Yuan Shisheng, wobei ihm Gyaltsen Choephel und Tamdrin halfen, und gemeinsam hoben sie Yuan Shisheng hoch und warfen ihn durch das Toilettenfenster aus dem dritten Stock, über 5 m in die Tiefe. Bagdro, der soeben mit einer Metallrute in der Hand hinunter gerannt war, versetzte Yuan Shisheng mehrere Schläge. Yuan Shisheng erlag den vielfältigen Verletzungen durch die Schläge auf den Kopf mit einem stumpfen Gegenstand. Auch erlitt er eine schwere Gehirnerschütterung durch den Fall aus solcher Höhe, sowie Verletzungen an Brustkorb und Bauch. Obwohl schwer verwundet, überlebte Chang Yusheng, weil er sofort ärztlich versorgt wurde.
Nachdem der geschilderte Vorfall infolge der Aussagen von Zeugen, kraft gerichtsmedizinischer Gutachten, des unmittelbaren Berichtes des Opfers und des Vorhandenseins von Belastungszeugen als den Tatsachen entsprechend bestätigt wurde, haben die Appellanten Lobsang Tenzin, Sonam Wangdu, Gyaltsen Choephel, Tsering Dondrup und Bagdro klar und deutlich ihre Schuld bekannt.
Das Gericht ist der Ansicht, daß die Appellanten Lobsang Tenzin, Sonam Wangdu, Gyaltsen Choephel, Tsering Dondrup, Tamdrin und Bagdro sich bei dem von ihnen am 5. März 1988 verursachten Aufruhr des vorsätzlichen Totschlags schuldig machten, indem sie Personal der Bewaffneten Volkspolizei so schwer schlugen, daß ein Polizist starb und ein weiterer schwere Verletzungen davontrug.
Die Appellanten Sonam Wangdu, Gyaltsen Choephel, Tsering Dondrup und Tamdrin sind die Hauptanstifter und daher die Hauptschuldigen und verdienen eine harte Strafe.
Was den Appellanten Bagdro betrifft, so wird sein Fall als der eines Komplizen nach dem Ermessen des gesetzlichen Ermittlungsausschusses sowie der Untersuchungskommission dieses Gerichtes gemäß den Paragraphen 13, 23, 24 und 53 des Strafgesetzbuches der VR China wie folgt entschieden.
Der Appellant Lobsang Tenzin, schuldig des vorsätzlichen Mordes, wird zum Tode verurteilt, was nach 2 Jahren Aufschub zu vollziehen ist, und er geht seiner politischen Rechte lebenslang verloren.
Der Appellant Sonam Wangdu, schuldig des vorsätzlichen Mordes, wird zu lebenslanger Haft verurteilt, ebenfalls mit lebenslangem Verlust der politischen Rechte.
Der Appellant Gyaltsen Choephel, schuldig des vorsätzlichen Mordes, wird zu 15 Jahren Haft verurteilt (vom 5. März 1988 bis zum 4. März 2003) und geht seiner politischen Rechte für 5 Jahre verlustig.
Der Appellant Tsering Dondrup, schuldig des vorsätzlichen Mordes, wird zu 10 Jahren Haft verurteilt (vom 12. März 1988 bis zum 11. März 1998) und geht seiner politischen Rechte für 3 Jahre verlustig.
Der Appellant Tamdrin, schuldig des vorsätzlichen Mordes, wird zu 5 Jahren Haft verurteilt (16. April 1988 bis 15. April 1993) und geht seiner politischen Rechte für 1 Jahr verlustig.
Der Appellant Bagdro, schuldig des vorsätzlichen Mordes, wird zu 3 Jahren Haft verurteilt (vom 18. April 1988 bis 18. April 1991) und geht seiner politischen Rechte für 1 Jahr verlustig.
Im Falle, daß einer der Appellanten etwas gegen sein Urteil einzuwenden hat, kann er entweder schriftlich oder mündlich innerhalb von 10 Tagen nach Zustellung dieses Urteils, gerechnet vom zweiten Tag nach Erhalt dieses Dokumentes an, durch diesen Gerichtshof an das Volksgericht der TAR appellieren." 14. Januar 1989
Abteilung für strafrechtliche Untersuchung des Mittleren Volksgerichtshofs der Autonomen Region Tibet
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Teil 12 |
Durch Folter gelähmter Gefangener gestorben: Nachruf auf Sonam Wangdu
Aus "TIN News Review 1999", Tibet Information Network, City Cloisters, 188-196 Old Street, London EC1V9FR, fax +44/178149015, e-mail: tin@tibetinfo.net, www. Tibetinfo.net
Sonam Wangdu, ein 44-jähriger ehemaliger Gefangener, der infolge der Folterungen von der Hüfte abwärts gelähmt war, starb im März in seinem Haus in Lhasa. Sonam Wangdu, der 1993 aus gesundheitlichen Gründen auf Bewährung aus dem Drapchi-Gefängnis entlassen wurde, hatte bei den Vernehmungen in der Untersuchungshaft schwere Verletzungen erlitten.
Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde ersichtlich, daß Sonam Wangdus Kopf, Nieren und Lungen stark geschädigt waren. Er konnte sich nicht mehr aufrichten und nur noch mit Hilfe eines Rollstuhls fortbewegen. In den Jahren vor seinem Tod war er eine angesehene Persönlichkeit in Lhasa und wurde für seinen Mut und Patriotismus überall geschätzt. Die Bewohner der Stadt halfen ihm die Stufen der Klöster hinauf- und hinabzusteigen und schoben seinen Rollstuhl. Er verdiente sich ein wenig durch Verkauf von Spulen für Papierdrachen und Wachs für Drachenschnüre auf dem Markt von Lhasa. Er reparierte auch Gaslampen, Kerosin-Kocher und Holzmöbel. Bevor er bei den politischen Protesten der achtziger Jahre mitmachte, betrieb Sonam Wangdu, ein gelernter Schreiner, einen Laden am Tromsikhang Markt.
Sonam Wangdu, der unter dem Volk als Shungti (von xiong di, was auf Chinesisch Bruder heißt) bekannt war, wurde nach den Unabhängigkeitsprotesten vom März 1988 zu lebenslanger Haft verurteilt, was später in 19 Jahre Gefängnis umgewandelt wurde. Er war einer der 6 Männer, die als die Hauptschuldigen am Tod eines chinesischen Polizisten hingestellt wurden, und einer der Angeklagten in dem wohl bekanntesten Schauprozeß in der Periode der Unruhen in Tibet von 1987 bis zur Verhängung des Kriegsrechtes im März 1989.
Sonam Wangdu beteiligte sich erstmals am 1. Oktober 1987, dem chinesischen Nationalfeiertag, an dem die Gründung der VR China begangen wird, an Unabhängigkeitsprotesten in Lhasa. Diese Proteste hatten im September begonnen, nachdem 21 Mönche von Drepung, denen sich dann über 100 weitere Tibeter anschlossen, am Barkhor demonstrierten.
Sonam Wangdu entging 1987 der Verhaftung, und machte am 5. März 1988, dem letzten Tag des Monlam Festes, wieder bei den Demonstrationen in den Straßen Lhasas mit. Ein Mönch aus dem Kloster Ganden, Lhundrup Kalden, besser als Ganden-Tashi bekannt, war auch bei den Protesten dabei und später mit Sonam Wangdu im Gefängnis. Er erinnert sich, mit welcher Energie Sonam Wangdu "den Protest gegen die chinesische Herrschaft" organisierte. Die Proteste im März 1988 erfolgten unmittelbar, nachdem die Statue Maitreyas, des zukünftigen Buddha, um den Barkhor getragen wurde. Mönche fingen damit an, die Freilassung von Yulu Dawa Tsering zu fordern, einem buddhistischen Philosophen und Lehrer, der einer der prominentesten tibetischen politischen Gefangenen ist und im Dezember 1987 festgenommen worden war, weil er mit einem italienischen Touristen über tibetische Unabhängigkeit gesprochen hatte. Yulu Dawa Tsering wurde im November 1994 entlassen und wohnt in Lhasa.
Ein Mönch warf einen Stein auf Polizisten, und einige Tibeter schleuderten Steinbrocken nach Chinesen, die diese Unruhen auf Video aufnahmen. An einigen Stellen heißt es, daß der Leibwächter eines Offiziellen einen Khampa erschoß. Sonam Wangdu schloß sich einer Gruppe von Leuten an, die um den Barkhor liefen und Parolen riefen. Die Demonstranten stießen bald mit den Sicherheitskräften zusammen, die mit Antikrawallschilden, Tränengas, Feuerwaffen und elektrischen Schlagstöcken bewaffnet waren. Die Tibeter setzten mehrere Fahrzeuge, Läden und andere Gebäude in Brand. Tibetischen Augenzeugen zufolge mögen zwischen 8 und 15 Mönche von den im Jokhang stationierten Soldaten der Bewaffneten Volkspolizei (PAP) zu Tode geschlagen worden sein, darüber hinaus kamen mindestens fünf Laien zu Tode. Der einzige offiziell anerkannte Todesfall war der eines PAP-Mitgliedes, des 21-jährigen Yuan Shisheng aus Sichuan, der tot gefunden wurde, als er zusammen mit einem anderen Polizisten auf seinem Wachposten war. Die Behörden meinen, daß Sonam Wangdu einer der Hauptanstifter zu diesem Totschlag war, obwohl die Ereignisse, die zum Tod des Polizisten führten, niemals aufgeklärt wurden. Sonam Wangdu und die anderen Angeklagten befanden sich in einer Gruppe von Tibetern, welche das Haus am Barkhor stürmten, wo die chinesischen Polizisten stationiert waren.
Nach seiner Beteiligung an den Protesten versuchte Sonam Wangdu aus Tibet zu fliehen, wurde aber am 17. Mai 1988 in Dram an der nepalesischen Grenze verhaftet und in die Gutsa-Haftanstalt gebracht. Während seiner einjährigen Untersuchungshaft wurde Sonam Wangdu schwer gefoltert, unter anderem wurde er mehrere Tage lang an einem von der Decke herabhängenden Seil aufgehängt, mit elektrischen Schlagstöcken geschlagen und mit Nahrungsentzug bestraft. Sonam Wangdu konnte seine Beine nicht mehr gebrauchen, nachdem ein tibetischer Folterer, der seinen Fall zu untersuchen hatte, ihn getreten hatte, wobei Sonam Wangdu eine Nierenquetschung erlitt, wie sein Freund Ganden-Tashi erzählte.
Sonam Wangdu wurde ein Jahr später zusammen mit Lobsang Tenzin, Gyaltsen Choephel, Tsering Dondrup und Tamdrin in dem Hauptquartier der PAP vor Gericht gestellt. Alle fünf Männer wurden des Mordes an dem chinesischen Polizisten Yuan Shisheng am 5. März 1988 für schuldig befunden und wegen "Totschlags und konterrevolutionärer Aktivitäten" angeklagt. Dieser Gerichtsbeschluß wurde dann jedoch umgestoßen, und die Anklage gegen die Männer wurde in Bezug auf die "konterrevolutionären Aktivitäten" umformuliert, was zu härteren Urteilen führte. Der zweite Prozeß der fünf Männer, wozu noch ein weiterer Häftling namens Bagdro kam, damals ein 20-jähriger Mönch aus Ganden, fand im Januar 1989 im Hauptquartier der PAP statt. Sonam Wangdu wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt
Das von dem Mittleren Gerichtshof der TAR in Lhasa am 14. Januar 1989 gefällte Urteil stellt fest, daß Sonam Wangdu Steine auf den Polizisten Yuan Shisheng und einen weiteren Polizisten namens Chang Yusheng geworfen hätte, der sich von dem Balkon im 3. Stock des Gebäudes zurückzog, von wo aus sie die Demonstranten beobachteten. Sonam Wangdu, Lobsang Tenzin, Gyaltsen Choephel, Tsering Dondrup und Tamdrin hätten das Gebäude betreten und die zwei Polizisten geschlagen, wobei Yuan Shisheng durch das Fenster hinuntergestoßen worden sei, während der zweite Polizist überlebte.
Die Berufung, die Sonam Wangdu später gegen das Urteil einlegte, wurde von dem Obersten Volksgericht abgewiesen, das feststellte, daß sie ohne Substanz und das Urteil des Mittleren Volksgerichtes somit rechtsgültig sei.
Am 14. April 1988 wurden Sonam Wangdu, Bagdro und die anderen vier Männer in das Drapchi-Gefängnis verlegt. Sonam Wangdu, der in der Einheit vier für politische Gefangene eingesperrt war, wurde immer schwächer und konnte kaum noch laufen. Trotz der brutalen Mißhandlungen leistete Sonam Wangdu sogar noch im Gefängnis der Obrigkeit Widerstand. Sein Mitgefangener Ganden-Tashi, der jetzt im Exil lebt, erzählte, daß Sonam Wangdu mehrmals Unabhängigkeitszettel im Gefängnis anbrachte. Berichte deuten an, daß Sonam Wangdu auch noch in Drapchi schwer mißhandelt wurde, als die Gefangenen für ihren Protest nach dem Tod von Lhakpa Tsering am 15. Dezember 1990 bestraft wurden. Ganden-Tashis Urteil wurde daraufhin um 9 Jahre erhöht, und Lobsang Tenzin mußte mit gefesselten Händen und Füßen Zwangsarbeit leisten.
Sonam Wangdu wurde erstmals im Dezember 1990 in das Spital des Public Security Bureau verlegt, als er klagte, daß er ohne fremde Hilfe nicht mehr gehen könne. Mitte Februar 1991 wurde er ins Gefängnis zurückgeschickt. Dazu wurde er von chinesischem Sicherheitspersonal an seinen Armen aus dem Spital gezogen. Die Sorge der Tibeter um Sonam Wangdus Zustand, als er aus dem Spital nach Drapchi zurückgeschleift wurde, kommt in einem Brief zum Ausdruck, der TIN zuging: "Seine Gesundheit verschlechtert sich Tag für Tag und sein Zustand ist ernst. Bitte versucht, sein Leben zu retten... Keinem von uns wird erlaubt, ihm zu helfen, und er muß ganz alleine leiden... Er mag nicht mehr lange überleben und wir machen uns wirklich tiefe Sorgen um ihn. Aber es gibt noch mehr solche Fälle in den Gefängnissen in Tibet". Die Tibeter, die TIN aus Lhasa benachrichtigten, meinten auch, daß Sonam Wangdus Frau erlaubt werden sollte, ihren Mann im Gefängnis zu besuchen, und sie fürchteten, daß die Gefängnisleitung nicht für seine Behandlung sorge. "Die Chinesen sind fähig alles mit ihm zu machen, vielleicht wollen sie sich seiner auch ganz entledigen... Solches ist schon früher geschehen und in diesem Fall ist es auch sehr wahrscheinlich".
Bis Anfang 1992 erhielt Sonam Wangdu keine richtige medizinische Behandlung. Auf internationalen Druck hin brachten die Chinesen einen Artikel in Beijing Review, wo es hieß, daß sie für Sonam Wangdus Behandlung bezahlt hätten und daß er an Tuberkulose und Blasenbeschwerden leide.
Sowohl Sonam Wangdu als auch Ganden-Tashi wurden am 2. April 1993 entlassen, fünf Monate nachdem Menschenrechtsgruppen in den USA und Großbritannien Bilder veröffentlichten, auf denen sichtbar war, daß die zwei Männer nach den Mißhandlungen in Drapchi schwere Lähmungserscheinungen hatten. Die zwei durften jedoch ihre Heimatdistrikte ohne polizeiliche Erlaubnis nicht verlassen. Die Entlassung der zwei verletzten Gefangenen zu ihren Familien bedeutete, daß diese nun für die weiteren ärztlichen Ausgaben aufkommen mußten. Sonam Wangdus Urteil wurde nicht aufgehoben, aber er kehrte auch nicht mehr ins Gefängnis zurück.
In den letzten Lebensjahren waren Sonam Wangdus Gehör und Sprachfähigkeit wegen der vielen Schläge, die er auf Kopf und Gesicht erlitten hatte, geschädigt, und er war inkontinent. Sein Leib war durch den Nierenschaden aufgebläht und geschwollen, und wenn er sein Haus verlassen wollte, mußten seine Nachbarn ihn die Treppen hinauf- und hinuntertragen. Aber er bekam keine Erlaubnis, wegen seiner Gehunfähigkeit vom 3. Stock ins Parterre umzuziehen. Ortsansässige Tibeter meinen, dies sei die Rache der Behörden, sowie ein Versuch gewesen, ihn isoliert zu halten.
Ganden-Tashi, ein Freund und ehemaliger Gefängniskamerad, sagte, daß Sonam Wangdu in späteren Jahren "mit schwerem Herzen ums Überleben kämpfte, aber niemals etwas bedauerte". Sonam Wangdu läßt seine Frau Drolma Choezom und drei Kinder zurück, das jüngste ist eine 13-jährige Tochter.
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Furcht um Lobsang Tenzins Gesundheit
Die Gesundheit des jetzt 33-jährigen Lobsang Tenzin, des ehemaligen Studenten der Universität Tibet, der in Powo Tramo, dem Gefängnis No. 2 der TAR, in Kongpo (auf Chinesisch als Linzhi bekannt) lebenslänglich einsitzt, nachdem er im April 1988 festgenommen wurde, gibt Anlaß zu ernster Besorgnis. Lobsang Tenzin, dessen Todesurteil im März 1991 in lebenslange Haft umgewandelt wurde, "kann nicht aufrecht" stehen und ist nicht mehr in der Lage, Gefängnisarbeit zu leisten, wie aus zuverlässiger inoffizieller Quelle verlautet. Die Verschlechterung seines Zustandes ist eine Folge der Folter, der schlechten Lebensbedingungen im Gefängnis und des Mangels an ärztlicher Betreuung. Es ist zu befürchten, daß Lobsang Tenzin an den Beinen permanent geschädigt sein wird und zum Krüppel werden könnte. Es heißt, Lobsang Tenzin hätte sich niemals von den schweren Mißhandlungen erholt, denen er nach seinen verschiedenen Protesten im Gefängnis unterworfen wurde.
Lobsang Tenzin wurde zum Hauptschuldigen am Tod des Mitglieds der PAP, Yuan Shisheng, während der Unabhängigkeits-Demonstrationen in Lhasa im März 1988 erklärt. Auf seine Verhaftung hin wurde Lobsang Tenzin 18 Monate lang ohne Verbindung zur Außenwelt in einer kleinen, feuchten Zelle mit gefesselten Händen und Füßen eingesperrt. Er wurde schwer geschlagen, nachdem er sich in der Haft an einigen Protesten beteiligte, darunter gehört auch der Vorfall, als er 1991 versuchte, im Drapchi-Gefängnis dem US Botschafter James Lilley einen Brief zu übergeben. Daraufhin wurde er in das Powo-Tramo-Gefängnis verlegt, wo er trotz seiner angeschlagenen Gesundheit zur Arbeit gezwungen wird.
Lobsang Tenzin fuhr seit seiner Verhaftung 1988 fort, die Behörden herauszufordern. 1989 schrieb er einen Brief an die Studenten der Universität Lhasa, worin er seine Sympathie für die Unabhängigkeitsdemonstrationen ausdrückt. "Ich versuchte, den Rauch von dem Feuer des Zornes, das grimmig in mir brennt, einzudämmen", schrieb Lobsang Tenzin in dem Brief, der aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde. "Aber dieses Mal mußte ich, obwohl ich wußte, daß die Chinesen mich verhaften würden, die heftigen Gefühle, die mich schon seit vielen Jahren bewegen, zu Papier bringen. Deshalb nahm ich an der Demonstration vom 5. März teil." Als ein junger tibetischer Student, Lhakpa Tsering, 1990 in Drapchi auf die Mißhandlungen hin starb, machte Lobsang Tenzin wieder bei einem Protest der politischen Gefangenen mit. Einem ehemaligen politischen Gefangenen, dem Mönch Palden Gyatso zufolge, konfrontierte Lobsang Tenzin die Gefängnisoffiziere mit einer genauen Aufzählung der vielen Schläge und all dessen, was Lhakpa Tsering widerfahren war.
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