Teil 4 |
Die Proteste vom Mai 1998
Der größte und zugleich am brutalsten niedergeschlagene aller Proteste innerhalb der Haftanstalt Drapchi ereignete sich in den ersten vier Tagen des Monats Mai 1998. Fast jeder Häftling war an den Protesten beteiligt, die zum Tod von acht Tibetern und zu schweren Verletzungen, Einzelhaft und Urteilsverlängerungen vieler anderer führten. Dennoch stritten die Chinesen in einem Schreiben an den UN Sonderberichterstatter im Februar 1999 ab, daß es derartige Vorfälle gegeben habe.
Am 8. Mai 2000 räumte China schließlich bei einer Sitzung des UN Komitees gegen Folter in Genf den Vorfall mit den Gefangenen-Demonstrationen in Drapchi von Anfang Mai 1998 ein. So erklärte der chinesische Delegierte dem Komitee: "Als das Gefängnis Anfang Mai 1998 einen Flaggenappell abhielt, der zu dem Gefängnisprogramm politischer Erziehung gehört, erdreistete sich eine Handvoll krimineller Straftäter ganz unverfroren, separatistische Parolen zu schreien und die Polizeibeamten der Haftanstalt zu beleidigen, zu belagern und anzugreifen. Sie zertrümmerten und zerstörten auch Einrichtungen der Anstalt und brachten die normale Ordnung im Gefängnis gründlich durcheinander. Die Polizeikräfte der Anstalt ergriffen gemäß den Vorkehrungen der Gefängnisverordnung die notwendigen Maßnahmen, um der Lage Herr zu werden. Während sie die Lage unter Kontrolle brachten, gab es keine Todesfälle durch Mißhandlung. Da einige Akte der Straftäter eine Übertretung der Regeln der Gefängnisadministration und eine Aufhetzung anderer zur Spaltung des Landes darstellten, wurden diese Kriminellen gemäß dem Gesetz mit zusätzlichen Strafen belegt".
Folgendes trug sich nach Aussage tibetischer politischer Häftlinge, die dem "Patriotismus-Erziehungsprogramm des Gefängnisses" unterzogen wurden, am 1. und 4. Mai 1998 zu:
Am 1. Mai 1998 plante die Obrigkeit zum Internationalen Arbeitstag eine Zeremonie, zu der auch ein Flaggenappell und Vorführen militärischer Übungen durch die Insassen gehörte. Um 10 Uhr früh wurden alle nicht-politischen Häftlinge und über 60 weibliche politische Gefangene der neuen rukhag #3, sowie 60 männliche politische Gefangene der neuen rukhag #5 in den großen Hof der Strafanstalt geschickt. Die Häftlinge der alten rukhags #3 und #5 waren ausgeschlossen, weil sie in der Vergangenheit zuweilen Tendenzen politischer Agitation im Gefängnis gezeigt hatten. Bewaffnete Aufseher umgaben die Häftlinge und ein speziell ausgerüstetes Sonderkommando von PSB Kräften war zur Kontrolle der weiblichen Gefangenen bereitgestellt. Auch Kameraleute und Journalisten waren anwesend, sowie der Direktor des chinesischen Gefängniswesens und der Leiter der Anstalt Drapchi.
Auf dem Weg zu dem Versammlungsplatz mußten die Häftlinge im Takt mit ihrem Schritt die Standardparolen über das Umdenken wiederholen, wonach sie vor dem Flaggenpostament in Reih und Glied aufgestellt wurden. Sie sollten nun das chauvinistische Lied "Sozialismus ist gut" singen, worauf unter den Klängen der chinesischen Nationalhymne die chinesische Flagge in die Höhe gezogen wurde. Unterdessen sprangen Karma Dawa und Karma Sonam, zwei nicht-politische Häftlinge, aus der Reihe und begannen Unabhängigkeitsparolen zu rufen und das Hissen der chinesischen Fahne auf tibetischem Boden zu tadeln. Die anderen Häftlinge fielen prompt ein, und die zwei Anstifter verteilten zudem Flugblätter mit denselben Slogans. Kurzzeitig geriet die Szene außer Kontrolle, dann wurden die weiblichen Insassen jedoch schnell überwältigt, denn jeder Polizist des Sonderkommandos stürzte sich auf die ihm zugeteilte Gefangene und stopfte ihr den Mund zu, damit sie nicht mehr schreien konnte. Geschwind war die PAP zur Stelle und drosch wild auf die aufbegehrenden Häftlinge ein. Auch Warnschüsse in die Luft wurden abgegeben.
Karma Dawa und Karma Sonam wurden grausamst misshandelt und ebenso wie viele andere Häftlinge in Einzelzellen gesperrt, während die übrigen Insassen in ihre jeweiligen Zellen zurückgejagt wurden. Anders als bei früheren Vorfällen dieser Art, als die Gefangenen gefesselt im Freien gelassen wurden, kamen noch am selben Abend Arbeiter, um Badezimmer, Läden und Verhörkammern in Einzelhaftzellen umzuwandeln. Lobsang Lungtok, ein 26-jähriger Mönch von Kloster Gaden, und Phuntsok Wangchung, ein Student aus der Region Lhoka, wurden kurz darauf in die berüchtigte Strafanstalt Powo Tramo verlegt.
Die Insassen der alten rukhag #3 verfolgten das ganze Geschehen von ihren Zellenfenstern aus. Sie zogen jedoch schnell ihre Köpfe weg, als sie Schüsse hörten, denn sie fürchteten durch die Überwachungskameras identifiziert und später bestraft zu werden. Die gemaßregelten Insassen der neuen rukhag #3 wurden daraufhin in den Hof zurückgebracht und mit elektrischen Schlagstöcken, mit sandgefüllten Plastikrohren, Gürtelschnallen und Gewehrenden geschlagen. 16 Gefangene, die besonders eifrig demonstriert hatten, wurden in Isolationszellen gesperrt. 13 von ihnen blieben sieben Monate eingeschlossen, während drei nach drei Monaten herauskamen, nur um ihre Hafturteile verlängert zu sehen.
Die Schläge und Misshandlungen gingen drei Stunden so fort. Die für ihre Brutalität berüchtigte Gefängniswärterin Pema Bhuti schrie die Gefangenen an, sie würden im Gefängnis zu gut ernährt und hätten viel zu gute Kleider bekommen und daher überschüssige Kraft zum Protestieren. Als die Häftlinge in ihre Zellen zurückkehrten, wurden ihnen noch ihre dünnen Matratzen weggenommen, so daß sie auf dem bloßen Zementfußboden schlafen mußten. Am selben Abend traten die Insassen der neuen rukhag #3 aus Protest gegen die Mißhandlung und die Verfrachtung ihrer Gefährtinnen in Einzelhaft in den Hungerstreik, der sechs Tage dauern sollte.
Drei Tage später, am 4. Mai 1998, beabsichtigte die Gefängnisleitung anläßlich des Internationalen Jugendtages eine fast gleiche Zeremonie abzuhalten. Wieder waren Kameraleute zu der Versammlung im Gefängnishof anwesend, sowie der Direktor der TAR Gefängnisbehörde und eine Abordnung von leitenden PSB Kadern. Abgesehen von den Insassen der alten rukhags sollten alle Häftlinge zu dem Ereignis erscheinen. Aber nur 20 weibliche Häftlinge wurden ausersehen, weil die anderen durch den Hungerstreik zu geschwächt waren, und selbst die zur Teilnahme an der Zeremonie ausgewählten mußten zum Hof geführt werden.
Wieder wurden die Gefangenen um 10 Uhr vor dem Flaggenpodest aufgereiht. Überraschenderweise riefen die Häftlinge, während die Flagge hochgezogen wurde, wieder Unabhängigkeitsparolen, diesmal angeführt von Lobsang Gelek, einem Mönch des Klosters Khangmar. Vorsichtshalber war bereits ein großes Aufgebot an Wachen und PAP Soldaten bereitgestellt worden, um einen Protestausbruch wie bei der vorhergehenden Zeremonie zu verhindern. Das PAP Personal ist in speziellen Techniken zur Verabreichung physischer Maßregelung ausgebildet, und viele ehemalige Gefangene können bezeugen, daß ihre Schläge anders und viel brutaler als die von den normalen Gefängniswachen ausgeteilten sind. Mit elektrischen Schlagstöcken, Eisenstangen und hölzernen Polizeiknüppeln bewaffnet, kesselten sie das ganze Gelände ein.
Als die ersten Protestrufe ertönten, feuerten die PAP Soldaten und die Gefängniswachen sofort Warnschüsse in die Luft und stürzten herbei, um die Protestanten zu schlagen. Die auf dem Hof anwesenden PSB Kader mußten sich schnellstens in Sicherheit bringen, weil sie gerade in der Schusslinie standen. Die weiblichen Häftlinge, die zu schwach zum Protestieren waren, wurden sofort in ihre Zellen abtransportiert, in denen sie zusammen mit einigen Wachen eingesperrt wurden. Die männlichen politischen Häftlinge wurden, nachdem sie schreckliche Schläge erlitten hatten, auf den Hof zurückgetrieben. Die sechs als die aktivsten befundenen kamen in Einzelhaftzellen. Die übrigen wurden in ihre Zellen zurückgeschafft, worauf jeder Häftling einzeln vernommen wurde. Von Paljor, einem für seine Grausamkeit berüchtigten Aufseher, gefoltert, gab Ngawang Tensun zu, daß er mitgemacht hatte, doch fügte er hinzu, er würde dasselbe ohne weiteres noch einmal tun. Nach weiteren Misshandlungen wurde er in Einzelhaft gesetzt. Einige andere Häftlinge, die am 1. Mai in Einzelhaft gesperrt worden waren, wie Norbu Phuntsok, Migmar, Kapasang, wurden nun in das PSB Haftzentrum der TAR und das PSB Haftzentrum von Lhasa transferiert. Zudem wurden die Zellen in den einzelnen rukhags umstrukturiert, so daß bisherige Freunde voneinander getrennt wurden, was für die Häftlinge, die in den zwei Tagen schwere Verwundungen erlitten hatten, noch zusätzliche Einsamkeit und Traurigkeit bedeutete.
Die Insassen der alten rukhag #3 verfolgten die Zeremonie von ihren Fenstern aus. Als der Protest anfing, fielen sie spontan in den Sprechchor ein und zerbrachen die Fensterscheiben. Da der Protest spontan erfolgte, herrschte etwa eine halbe Stunde lang Verwirrung, bis die Wachen die Häftlinge überwältigen konnten. Dreieinhalb Stunden lang nahmen sich PAP Soldaten und Wachen die Gefangenen einzeln vor, um sie in ihren Zellen und im Hof zu misshandeln.
Pema Bhuti tat sich wieder durch Grausamkeit und Zynismus hervor und wiederholte ihre Vorwürfe, die Nonnen bekämen zu viel Essen und zu gute Kleider. Sie schlug eigenhändig jede Gefangene und sonderte dann diejenigen zehn zu besonderer Bestrafung aus, gegen die sie ohnehin schon Groll hegte, und sie beschuldigte Ngawang Sangdrol und Lobsang Choekyi, den Protest vom Zaun gebrochen zu haben. Ngawang Sangdrol wurde so sehr misshandelt, daß sie bewusstlos umfiel und mehrere Wunden am Kopf davontrug. Als Phuntsok Pema versuchte, sie vor weiteren Grausamkeiten zu schützen, wurde sie selbst so brutal geschlagen, daß sie sich nicht mehr bewegen konnte. Die Opfer wurden dann ohne irgendwelche medizinische Betreuung in ihre Zelle gesperrt. Ngawang Choezom (Laienname Pasang Lhamo) und Ngawang Tenzin (Laienname Lhadrol) kamen in Einzelhaftzellen, während Lobsang Choekyi zu zwei Monaten Isolationshaft in das Gutsa Haftzentrum verlegt wurde. Später kam sie nach Drapchi zurück.
Die Insassen der alten rukhag #5 wurden ebenfalls von der Zeremonie ausgeschlossen, aber sie hatten keinen direkten Ausblick auf das Geschehen, wie die weibliche Abteilung. Als die Häftlinge der neuen rukhag #5 jedoch zurückgetrieben wurden, hörten sie den Krach und starteten sofort ihren eigenen Protest. Aufgebracht durch das, was draußen im Hof vor sich ging, zerbrachen die Häftlinge, angeführt von Ngawang Sungrab und Ngawang Dorjee, die Haupttür ihrer Abteilung. Nun stürzten von dem Lärm alarmiert die Wachen herbei und feuerten in die Luft. Der Chinese Zhu Xiofeng schoß jedoch direkt auf die randalierenden Häftlinge und traf Ngawang Sungrab in den Bauch. Ein Mitgefangener versuchte die Blutung mit einem Stück Tuch zu stoppen, was aber erfolglos war. Ein Mönch von Gaden, Jamyang, wurde ins Gesicht geschossen, so daß auch er heftig zu bluten begann.
An diesem Punkt versuchte Tanak Jigme Sangpo einzugreifen. Er wollte die Gefangenen beruhigen und forderte sie auf, in ihre Zellen zurückzukehren. Aber schon kreisten die PAP Soldaten die Häftlinge ein und bedrohten sie mit ihren Gewehren. Dann droschen sie auf sie ein und stießen sie herum, so daß Tanak Jigme Sangpo zu Boden geworfen wurde. Wütend schnappte der Gaden Mönch Dawa eine Handvoll Erde und warf sie den Wachen ins Gesicht. Zur Vergeltung wurde er gleich beiseite geführt und entsetzlich mit Eisenstangen traktiert. Auch der Gaden Mönch Tsering Phuntsok und Ngawang Dorjee, in dem die Wachen einen der Anstifter vermuteten, wurden auf diese Weise misshandelt. Drei Häftlinge wurden zusammen mit Ngawang Sungrab, der inzwischen nicht mehr sprechen konnte, ins Krankenhaus eingeliefert.
Auf die Misshandlungen hin folgten individuelle Vernehmungen aller Häftlinge. Diese begannen um 18 Uhr des selben Tages und dauerten bis zum folgenden Abend. Ohne Ausnahme wurde jeder Häftling so heftig geschlagen, daß kaum einer ohne schwere Verletzungen davonkam. Tenzin Dhrodul mußte sich bäuchlings auf den Boden legen und dann schleiften sie ihn, so daß die Haut seines Gesichtes abgeschürft wurde. Sogar Thupten Kalsang, der nur noch eine Woche bis zur Entlassung hatte, wurde geschlagen und am folgenden Morgen obendrein noch zwei Stunden lang vernommen. Die beiden letzteren wurden ebenso wie Tsering Nyima so brutal misshandelt, daß ihr Nervensystem Schaden nahm und sie immer noch an den psychischen Nachwirkungen leiden. Lobsang Choephel, ein Mönch des Klosters Khangmar, welcher der chinesischen Brutalität nicht mehr standhalten konnte, nahm sich am Abend des 4. Mai das Leben, indem er sich an den Eisenstäben eines Abortfensters erhängte. Als Choephels Freunde nach einiger Zeit seinen toten Leib fanden, weinten sie laut vor Verzweiflung. Vier Häftlinge, Phuntsok Samdup, Lobsang Dawa, Buchung und Gyaltsen Choephel, hoben den Leichnam auf und riefen "Sie haben einen von uns umgebracht!". Mitgefangene schlossen sich ihren Rufen an. Die Wachen, die herbeieilten, um zu schauen, was los war, befahlen vier Männern, den Körper in das Krankenrevier der Anstalt zu bringen. Diese liefen stattdessen mit dem Ruf "Sie haben unseren Mann umgebracht" in Richtung Gefängnishof.
Kurz darauf transportierten die PAP Soldaten Buchung und Gyaltsen Choephel in Isolationszellen ab. Gleichzeitig stürmten die Wachen in die Zellen und herrschten die Häftlinge an: "Wer hat euren Mann umgebracht?", und befahlen ihnen Ruhe zu geben. Empört ergriff Sonam, ein Mönch von Lhoka, einen Gewehrlauf und ihn auf seine Brust haltend forderte er den Aufseher auf abzudrücken. Mehr Wachen eilten herbei und pferchten alle Gefangenen in eine einzige Zelle zusammen. Nach einiger Zeit wurden die Häftlinge einzeln herausgeholt und gefesselt, und dann wurden sie von fünf Wachen geschlagen, die sie mit Eisenstangen, elektrischen Schlagstöcken und allem, was ihnen noch in die Hände kam, misshandelten. Fünf Gefangene erlitten so schwere Kopfverletzungen und Gehirnerschütterungen, daß sich nicht mehr alleine in ihre Zellen zurückgehen konnten und später an Gedächtnisausfällen litten. Lobsang Tsunden und Ringzin wurden so grausam verletzt, daß sie dem Tode nahe waren und ins Hospital gebracht werden mußten. Lobsang Tsunden hatte nur noch kurz bis zu seiner Entlassung, wegen seiner Verletzungen verzögerte sich diese jedoch.
Nicht nur hatten die Chinesen für den 4. Mai 1998 eine Zeremonie anberaumt, an diesem Tag sollte auch eine Menschenrechtsdelegation von der Europäischen Union, die aus den Pekinger Botschaftern Großbritanniens, Österreichs und Luxemburgs bestand, dem Gefängnis einen Besuch abstatten. Die Delegation, die zwischen 11 und 12 Uhr vormittags in Drapchi ankam, erklärte später, sie habe überhaupt nichts von irgendeinem störenden Zwischenfall innerhalb der Haftanstalt gemerkt. Sie sei zwar überrascht gewesen, daß man sie im Freien, etwas außerhalb der inneren Gefängnistore empfangen und mit ihr gesprochen habe. Sonst fiel ihr nichts auf, was für eine Strafanstalt ungewöhnlich gewesen wäre.
Am 4. Mai 1998 waren es vier Tage, daß die Insassen der neuen rukhag #3 sich im Hungerstreik befanden, und sie waren außerordentlich geschwächt, einige spuckten sogar Blut. Am Tag darauf waren sie so elend, daß sie nicht mehr richtig stehen konnten und nicht mehr in der Lage waren, die kurzen Besen anzuheben, um wie üblich den Hof zu fegen. Am folgenden Tag besuchte der Direktor der Haftanstalten der TAR (tib. lobsotru, chin. laogaizhu), begleitet von PSB Kadern, die Häftlinge. Er erkundigte sich, was sie zum Hungerstreik veranlasst habe, und erklärte ihnen, sie würden auf diese Weise doch nur ihrem eigenen Körper Schaden zufügen. Er schien an der Sache interessiert zu sein und wollte mehr Einzelheiten wissen. Die Gefangenen klagten, ihnen sei vorgeworfen worden, daß sie zu üppig ernährt würden, wo ihre Kost doch in Wirklichkeit äußert dürftig ist, was der Grund für ihren Hungerstreik sei. Die Kader räumten daraufhin ein, daß die Gefängnisaufseher "einige Fehler gemacht" hätten. Dadurch entspannte sich die Atmosphäre, und die Frauen konnten zum Abbruch ihres Protestes bewegt werden. Den Schwächsten träufelten die Offiziellen eigenhändig etwas Wasser in den Mund und ließen dann allen eine leichte gekochte Reissuppe bringen, welche die Gefangenen auch zu sich nahmen. Die allerschwächsten wurden sogar intravenös ernährt.
Nach den Protesten vom 4. Mai dauerten die individuellen Vernehmungen bis 3. Juni. Die Aufseher gingen von Zelle zu Zelle und nahmen sich die Häftlinge nacheinander vor, so daß sie für jede Zelle über einen Tag benötigten. Mehrere Wachen stellten die Fragen, wobei sie die Opfer, die sich entkleiden mußten, mit sandgefüllten Plastikrohren und Elektroschlagstöcken traktierten. Am 6. Mai wurde Dugtok, ein politischer Häftling, bei zwei Vernehmungssitzungen so brutal geschlagen, daß er dem Tode nahe war und Sanitäter geholt wurden, die ihn ins Hospital brachten.
Am 13. Mai wurde Ngawang Dorjee, der infolge der am 4. Mai erlittenen Schläge im Hospital lag, in seinen Zellentrakt zurückgebracht, obwohl sein Zustand noch sehr schlecht war. In ähnlicher Weise wurde Ngawang Sungrab von den Gefängnisaufsehern vernommen, während er im Krankenhaus lag und sich noch nicht von der Bauchoperation nach der Schussverletzung erholt hatte. Sie kamen am 26. Mai und traktierten ihn während der Befragung mit Elektroschlagstöcken, so daß seine Glieder ständig hin- und herzuckten. Am nächsten Tag wurde Ngawang Sungrab ohne Rücksicht darauf, daß er eine ernste Operation hinter sich hatte, ins Drapchi Gefängnis zurückgebracht und alleine in eine Zelle gelegt, wodurch ihm jeder Beistand von Mitgefangenen unmöglich gemacht wurde.
Am 3. Juni kamen Gefängniswärterinnen mit chinesischen Liederbüchern in die zwei weiblichen rukhags, und indem sie sich auf die Mai Proteste bezogen, warnten sie die Insassen der neuen rukhag #3: "Die Sache mit eurem schlechten Benehmen von neulich ist noch nicht zu Ende". Sie befahlen ihnen dann, daß sie zwölf Lieder auf Chinesisch und Tibetisch zum Ruhm der Partei singen, einschließlich der chinesischen Nationalhymne. Die politischen Gefangenen sangen nicht mit, weshalb die Wärterinnen sie aufforderten, die tibetischen Lieder zu singen, die sie wohl verstehen würden. Die Häftlinge blieben jedoch standhaft in ihrer Weigerung, und zur Strafe mußten sie unbeweglich draußen in der Sommerhitze stehen. Dabei wurden ihnen Zeitungsblätter unter die Arme und zwischen die Knie geklemmt, und sie mußten zudem eine Wasserschale auf den Kopf balancieren. Wenn etwas von diesen Dingen herunterfiel, bekamen sie Schläge. Ab und zu mußten sie sich ein wenig drehen, damit sie immer direkt in die Sonne blickten. Danach wurden sie einzeln zur Vernehmung mit den üblichen Schlägen und elektrischen Schocks weggeführt. Vier Tage lang ging es bei nur 10 Minuten täglicher Pause zur Nahrungsaufnahme und zum Toilettengang mit dieser Quälerei so weiter. Auf Gefangene, die zusammenbrachen, wurde erst recht eingedroschen.
Am Sonntag, den 7. Juni, hatten die Häftlinge der neuen rukhag #3 einen halben Tag Schonung. Da fiel einigen auf, daß sich Tsultrim Sangmo und Drugkyi Pema infolge der brutalen Misshandlungen in besorgniserregendem Zustand befanden. Um Mittag sah Choeying Kunsang, wie die Körper von zwei Nonnen, die so abgezehrt waren, daß ein einziger Aufseher sie halten konnte, zu einem außen wartenden Fahrzeug getragen wurden. Einige Insassen der neuen rukhag #3 rannten hinterher und riefen: "Wohin bringt ihr unsere Gefährtinnen, ihr habt sie umgebracht!" Der Aufseher antwortete: "Einige von euren Leuten haben sich im Lagerraum erhängt. Wir müssen sie jetzt ins Hospital bringen, um sie wiederzubeleben". An jenem Nachmittag starben insgesamt 5 Nonnen der neuen rukhag #3, angeblich durch Erhängen oder durch Ersticken: Tsultrim Sangmo, Drugkyi Pema, Lobsang Wangmo, Khedron Yonten und Tashi Lhamo. Die Gefängnisleitung weigerte sich, eine Untersuchung vorzunehmen und die Leichen den Angehörigen zu dem traditionellen tibetischen Bestattungsritus auszuhändigen. Das eine wie das andere hätte nämlich den Schweregrad und die Art der Verletzungen, welchen die Gefangenen erlagen, ans Licht gebracht. Die Leichen wurden von der Gefängnisbehörde verbrannt, welche die ganze Zeit über den anderen Insassen versicherte, die fünf Nonnen seien zur Behandlung ins Krankenhaus gebracht worden. Die Abteilung wurde nicht über ihren Tod informiert, und erst nach ihrer Entlassung erfuhren die Freundinnen der Verstorbenen die Wahrheit.
Auf die Todesfälle vom 7. Juni hin wurden beide rukhags #3 völlig isoliert, bis zum Sommer 1999. Die Häftlinge waren Tag und Nacht auf ihre Zellen beschränkt und durften nicht einmal hinausgehen, um ihre Toiletteneimer zu leeren. Gewöhnliche Verbrecher wurden den politischen Gefangenen als Spitzel in die Zellen gesetzt, und in jeder Zelle eine Überwachungskamera angebracht. Diese Maßnahmen machten es den Häftlingen praktisch unmöglich, irgend etwas über den Zustand verletzter Gefährtinnen in anderen Zellen zu erfahren, und sogar innerhalb der Zellen wurde die Kommunikation verhindert. Es war sehr eng in den kleinen Kammern, von denen jede 12 Gefangene enthielt. Als die Opfer schließlich herausgelassen wurden, litten sie nicht nur an Sehschwäche, nachdem sie so lange im Halbdunkel gesessen hatten, sondern sie fanden es auch schwierig, ihre Beine zu gebrauchen und einige Schritte zu machen. Das Besuchsrecht wurde bis Juni 1999 ausgesetzt, und nur allmählich wurde es den Zellen der Reihe nach wieder gewährt. Abgesehen davon, daß die Insassen auf diese Weise von jeglicher Information abgeschnitten waren, bedeutete das Ausbleiben der Besucher auch, daß sie die so wichtigen Lebensmittelpäckchen nicht mehr von ihren Angehörigen bekommen konnten. Daher litten sie immer mehr an Unterernährung. Außerdem wurden den Insassen der zwei rukhags #3 Schreibpapier, Schreibstifte, Bücher, Briefe und ihre gerichtlichen Dokumente weggenommen und verbrannt.
Nach den Protesten vom Mai 1998 ergriff die Gefängnisaufsichtsbehörde, eingedenk ihrer Erfahrung mit früheren Demonstrationen in Drapchi 1990, wo die Bevölkerung von Lhasa den Gefangenen große Sympathie erwies und sie zu unterstützen versuchte, scharfe Maßnahmen, um das Aussickern von Informationen aus dem Gefängniskomplex zu verhindern. Die Gefängnisbediensteten durften das Gelände mehrere Tage lang nicht verlassen, und es wurde ihnen mit Strafverfolgung gedroht, falls sie irgendwelche Informationen über das Vorgefallene weitergeben würden. Für mehrere Häftlinge, deren Entlassung kurz bevorstand, wurde das Entlassungsdatum verschoben, und man drohte ihnen mit ernster Vergeltung, falls sie mit irgend jemandem über die Proteste oder die darauffolgenden Todesfälle sprächen.
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