19. August 2000
Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD)
Top Floor, Narthang Building, Gangchen Kyishong, Dharamsala 176215, H.P., phone/fax +91/1892/23363, e-mail: dsala@tchrd.org, website: www.tchrd.org

Sonam Dekyi berichtet über das Treffen mit ihrem Sohn im Gefängnis

"Ich war von gemischten Gefühlen erfüllt, als ich von der Chinesischen Botschaft in New Delhi die Erlaubnis bekam, daß ich nach Tibet reisen und meinen Sohn Ngawang Choephel besuchen dürfe, der eine 18 Jahre lange Haftstrafe in Tibet ableistet. Der Kopf drehte sich mir bei der Aussicht, nach Tibet zu reisen und nach 6 langen Jahren meinen Sohn wiederzusehen, aber auch vor Angst, ihn in geschwächtem Zustand vorzufinden. Obwohl die ganze Reiseroute ohne mein Zutun von den Chinesen festgelegt worden war, machte ich mir mehr Sorgen darüber, welche Bedingungen mir gestellt würden, um ihn zu treffen.

Am 1. August 2000 flogen mein Bruder Tsering Wangdu und ich von Kathmandu nach Lhasa. Als wir den Flugplatz Gongkar bei Lhasa erreichten, durften wir das Flugzeug nicht verlassen. Fünf Bedienstete der PLA (Volksbefreiungsarmee) kamen an Bord. Einer teilte mir mit, daß mein Sohn auf seine Bitte hin in ein anderes Gefängnis in Chengdu verlegt worden sei, wo er weiterhin angemessen medizinische behandelt würde. Zwei Tibeter, ein Mann und eine Frau, die uns als Angestellte des Empfangszentrum Lhasa für im Ausland lebende Tibeter vorgestellt wurden, nahmen uns in ihre Obhut. Sie flogen mit uns nach Chengdu. Am Flugplatz Chengdu wurden wir von einem chinesischen Beamten empfangen, der behauptete, von dem Empfangszentrum Chengdu zu sein.

Am folgenden Tag, dem 2. August, wurden wir zu dem Allgemeinen Krankenhaus von Chengdu gebracht, wo Ngawang angeblich medizinisch behandelt wurde. Wir wurden einem berühmten chinesischen Arzt vorgestellt, der meinen Sohn betreut. Der Arzt unterrichtete mich über Ngawangs Gesundheit und sagte, daß er an vier verschiedenen Krankheiten leide. Mein Sohn sei bereits wegen seiner Harnwegprobleme behandelt worden, und sie würden sich nun um seine Leber-, Lungen- und Magenleiden kümmern.

Am nächsten Tag wurden wir zu einen riesigen Gefängniskomplex in der Nähe des Bahnhofs Chengdu gebracht, wo ich meinen Sohn zum ersten Mal seit 6 Jahren treffen sollte. Ehe ich ihn jedoch sehen durfte, wurde ich zu einem chinesischen Aufsichtsbeamten geführt. Dieser gab mir genaue Verhaltensregeln, an die ich mich zu halten hätte, um meinen Sohn sehen zu können. Das Gespräch dürfte in keiner anderen Sprache als in Tibetisch erfolgen, und wir dürften nichts Politisches, Illegales oder über die chinesische Regierung Abfälliges reden. Ich wurde auch informiert, daß ich meinen Sohn zweimal treffen dürfe, aber jedes Mal nicht mehr als eine Stunde. Ich bat um mehr Zeit, aber er schlug meine Bitte ab.

Als ich meinen Sohn schließlich sah, konnte ich nicht mehr wiedererkennen. Durch zwei Theken und zwei Maschendrahtgitter getrennt stand vor mir eine zerbrechliche Gestalt, die nur noch aus Haut und Knochen bestand. Tränen strömten unaufhörlich aus meinen Augen, und ich fragte ihn, ob er denn wirklich mein Sohn sei. Alles, was er antworten konnte, war: "Bitte, weine nicht!" Da erkannte ich ihn an seiner Stimme. Drei Wachen umgaben ihn, einer hinter ihm und an jeder Seite einer. Als ich nach seiner Gesundheit fragte, hielt er seinen Brustkorb und sagte, daß er ständige Schmerzen in der Brust hätte. Mit der Stirn auf die Theke gestützt sank er vor meinen Augen in sich zusammen. Wir weinten alle lange, bis wir gewarnt wurden, daß der Besuch abgebrochen würde, wenn wir nicht zu weinen aufhörten. Ich wollte ihn so gerne berühren und bat daher, ob ich seine Stirn streicheln und seine Hände halten dürfte. Ich hörte, daß mein Sohn um dasselbe bat. Aber unser Flehen stieß auf taube Ohren.

Mein Sohn sagte, daß er bereits verschieden Gesuche um medizinische Behandlung geschrieben und auch um die Erlaubnis gebeten hätte, seine Mutter sehen zu dürfen, sie aber nicht einreichen konnte. Sie erklärten ihm, daß ihm nichts fehle und er sein Leiden nur vortäusche. Frustriert über diese Gleichgültigkeit trat er in Hungerstreik.

Bei unserem zweiten Besuch im Gefängnis am 7. August, einen Tag vor unserem Abflug nach Nepal, wurden wir wieder zu dem Gefängnisbeamten geführt, ehe wir Ngawang zu sehen bekamen. Ich benützte die Gelegenheit, um ihn zu bitten, etwas für meinen Sohn zu tun. Ich sagte, daß er nur noch Haut und Knochen sei und daß er an einer ganzen Reihe von Gebrechen leide. Ich drang in ihn, er möge mir erlauben, bei meinem Sohn zu bleiben, damit ich ihn pflegen könne. Ich bat weiter, daß mein Sohn bis zu seiner vollen Genesung im Krankenhaus bleiben könne, ehe er nach Tibet zurückgeschickt wird. Ich ersuchte ihn, die medizinische Behandlung fortzusetzen und ihn nicht mehr psychisch mit den Verhören zu quälen. Seine ganze Antwort war, daß mein Sohn sehr trotzig und schwierig gewesen sei und sich weigere, sein Verbrechen zu gestehen. Schließlich übergab ich diesem Beamten ein schriftliches Gesuch, in dem ich diese Bitten aufführte.

Das war die letzte Gelegenheit, bei meinem Sohn zu sein. Ich brach wieder in Tränen aus, als ich ihn sah. Ich wollte sicher sein, daß seine Glieder alle heil sind. Ich sagte, er solle seine Arme und Hände zeigen und etwas zurücktreten, damit ich seine Beine und anderen Körperteile sehen konnte. Ich erkundigte mich, ob er gefoltert worden sei. Er verneinte meine Frage und meinte, daß der Vorfall von Shigatse der Vergangenheit angehöre und dann schwieg er. Er bat mich noch, all denjenigen, die ihn in dieser Zeit der Drangsal unterstützten, seinen aufrichtigen Dank zu sagen.

Als ich ursprünglich die Erlaubnis bekam, meinen Sohn zu besuchen, freute ich mich darauf, in seiner Nähe sein und ihn die ganzen sechs Tage umsorgen zu können. Aber dann durfte ich meinen Sohn nur zweimal sehen und auch das nur mit einem großen Abstand. Ich durfte keinen physischen Kontakt mit ihm haben. Ich bin nun 66 Jahre alt und mein einziges Kind verbüßt seit 1995 eine Haftstrafe von 18 Jahren im Gefängnis. Mein Sohn leidet an einem schweren physischen Gebrechen und psychischen Trauma im Gefängnis. Mit seiner Gesundheit geht von Tag zu Tag abwärts, und wenn er nicht bald eine angemessene medizinische Behandlung erhält, wird er wohl nicht mehr lange leben. Ich appelliere dringend an die internationale Gemeinschaft und insbesondere an die chinesische Regierung, mir meinen einzigen Sohn zu übergeben, damit ich ihn angemessen behandeln lassen kann."

Aufgezeichnet vom TCHRD, 19. August 2000

Hintergrundinformation über Ngawang Choephel

Ngawang Choephel ist ein Musiker aus Indien, der im August 1995 von den Chinesen festgenommen wurde. Ngawang ist das einzige Kind seiner Mutter Sonam Dekyi. Ngawangs Vater versuchte nach seiner Frau und seinem Sohn aus Tibet zu fliehen, wurde aber von den Chinesen verhaftet und gefoltert. Ob er noch lebt, ist derzeit unbekannt.

Schon als Kind widmete sich Ngawang in der Tibetischen Niederlassung in Mundgod, Camp No. 2, in Südindien leidenschaftlich der Musik. Nach Abschluß der Schule trat er in das "Tibetan Institute of Performing Arts" in Dharamsala ein. Nach Beendigung dieses Studiums lehrte er an verschiedenen tibetischen Schulen in ganz Indien tibetische Musik und darstellende Künste.

1993 ging Ngawang Choephel mit dem angesehenen Fulbright Stipendium in die USA, um am Middlebury College in Vermont ethnologische Musikwissenschaft zu studieren und zu lehren. Ein Jahr später kehrte er nach Indien zurück. Im Juli 1995 reiste Ngawang nach Tibet, um tibetische kulturelle Traditionen aufzuzeichnen und zu dokumentieren. Die amerikanische Photographin Kathryn Culley begleitete ihn bei dieser Dokumentation. Vor ihrer Abreise am 22. August 1995 erklärte Ngawang ihr, daß er noch länger bleiben würde, um Shigatse zu besuchen, wo er nach Musikern Ausschau halten wolle, ehe er dann in 3 bis 5 Monaten nach Indien zurückkehren würde. Er wollte auch herumreisen, um seinen Vater zu suchen.

Im August 1995 wurde Ngawang für vermißt erklärt. Erst am 15. Oktober 1996, über ein Jahr nach seiner Verhaftung, gaben die Chinesen schließlich seine Inhaftierung zu. Am 26. Dezember 1996 wurde er von dem Mittleren Volksgericht von Shigatse wegen "Spionageaktivität" zu 18 Jahren Gefängnis und vier Jahren Verlust der politischen Rechte verurteilt. Bis zu seiner Verlegung in das Hochsicherheitsgefängnis Powo Tramo im Kreis Tramo im Juli 1998 wurde er in der Nyari Haftanstalt von Shigatse festgehalten.

In Indien hielt seine Mutter Sonam Dekyi seit Juli 1997 eine "Ein-Mann-Demonstration" in Delhi ab. Frau Dekyi ließ nicht nach in ihrem Kampf, sie appellierte immer wieder an die chinesische Regierung um Erlaubnis, ihren Sohn vor ihrem Tod besuchen zu dürfen. Dieser Besuch kam nun als Ergebnis einer vereinten Kampagne vieler Organisationen, Einzelpersonen, hoch gestellter Persönlichkeiten und einer Kongreß-Abordnung aus Vermont zustande.

In der letzten Juliwoche 2000 erhielt Frau Dekyi von der chinesischen Botschaft in New Delhi die Erlaubnis zu einem einwöchigen Besuch in Tibet. Ihr Bruder Tsering Wangdu begleitete sie, und sie flogen am 1. August von Kathmandu ab. Nach der Ankunft in Gongkar flogen sie am selben Tag nach Chengdu weiter. Am nächsten Tag wurden sie in ein Gefängnis in Chengdu gebracht, wo Dekyi durch zwei Maschendraht-Barrieren hindurch ihren Sohn sprechen konnte. Der Besuch, der nur eine Stunde dauerte, fand unter strenger Überwachung statt. Sie durften sich nicht berühren und keine Emotionen zeigen.

Von allen Seiten von Gefängniswachen umgeben, schien Ngawang sehr vorsichtig in seinen Äußerungen zu sein und erwähnte nichts von Mißhandlung im Gefängnis. Er sagte seiner Mutter, daß er eine schriftliche Petition eingereicht hätte und in Powo Tramo in Hungerstreik getreten sei, weil er keine angemessene ärztliche Behandlung bekam. Wenige Wochen vor dem Besuch wurde seine Behandlung in dem Krankenhaus von Chengdu arrangiert, was bestätigt, daß er an verschiedenen gesundheitlichen Störungen leidet, darunter auch einer Harnwegsinfektion. Er riet seiner Mutter, nicht mehr auf den Bürgersteigen von Delhi zu kampieren und statt dessen ihre Zeit in spiritueller Praxis zu verbringen. Er beteuerte seinen Dank all jenen Leuten, die ihm halfen. Der zweite Besuch gestaltete sich ähnlich, außer daß Ngawang nun herausstaffiert war. Er war rasiert, in eine locker sitzende Jacke gekleidet, und sein Haar war frisiert.

Ende 1999 verlautete aus offizieller chinesischer Quelle, daß Ngawang "Symptome von Bronchitis, Lungeninfektion und Hepatitis entwickelt habe, aber nach zwei Monaten ärztlicher Behandlung schnell genesen sei". Falls Ngawang bei seinen vielfältigen Gebrechen und den schlimmen Bedingungen im Gefängnis so lange überlebt, wird er im Jahr 2013 im Alter von 47 Jahren entlassen werden.