30. August 2021
Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD), www.tchrd.org

30. August: Internationaler Tag der Opfer des Verschwindenlassens: Das TCHRD erklärt sich solidarisch mit allen Opfern

Am 38. Internationalen Tag der Verschwundenen erinnert das TCHRD an alle Opfer des Verschwindenlassens in Tibet und fordert China auf, das Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen zu unterschreiben und zu ratifizieren.

Der Leidensweg der Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens ist lang und endet oft mit dem Tod. Dabei büßen das Opfer, seine Familienangehörigen und ihre Volksgruppe eine Reihe international geschützter Rechte ein, unter anderem das Recht auf Leben, auf Beachtung der Wahrheit, eine Rechtspersönlichkeit zu sein, auf ein faires Verfahren, menschenwürdige Haftbedingungen und das Recht, nicht gefoltert oder einer anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe ausgesetzt zu werden.  

Der verschwundene Schriftsteller und Umweltschützer Sey Nam

Dem TCHRD sind in den letzten drei Jahren trotz der Blockierung des Informationsflusses aus Tibet fast 40 Fälle von Verschwindenlassen bekannt geworden. Das gewaltsame Verschwindenlassen ist übrigens ein nicht verfolgbarer Straftatbestand.

Artikel 1, Absatz 2, des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen besagt, daß „keinerlei außergewöhnliche Umstände“ herangezogen werden dürfen, um das Verschwindenlassen zu rechtfertigen.

In dem Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (1992) heißt es: „Es dürfen keinerlei Umstände wie Kriegsgefahr, Kriegszustand, innenpolitische Instabilität oder ein anderer öffentlicher Notstand geltend gemacht werden, um das Verschwindenlassen von Personen zu rechtfertigen.“

Dennoch macht China weiterhin von dem Verschwindenlassen Gebrauch, um Personen, die es als Bedrohung für die „Staatssicherheit“ und die „soziale Stabilität“ ansieht, einzuschüchtern und um ihren Widerstand zu brechen.

In den Tagen vor und nach der  Hundertjahrfeier der Kommunistischen Partei Chinas, die vor Kurzem stattfand, und dem 70. Jahrestag der sogenannten „friedlichen Befreiung“ Tibets wurden viele Tibeter im Namen der Kampagne gegen fake news und illegale Online-Aktivitäten sowie der ständigen Kampagnen für die nationale Sicherheit und soziale Stabilität willkürlich festgenommen. Und dann verschwanden sie.

In ihrem Jahresbericht 2020 äußerte die Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen gegen das Verschwindenlassen von Personen (WGEID) ihre Besorgnis über das Liuzhi-System, ein neues System der Inhaftierung von Mitgliedern der Kommunistischen Partei und Regierungsmitarbeitern in China, das sich der gerichtlichen Kontrolle völlig entzieht, sowie über die fortgesetzte Anwendung der „Residential Surveillance at a Designated Location" (Unterbringung in einem Geheimgefängnis oder black jail).

Seit mehr als zwei Jahrzehnten berichtet und dokumentiert das TCHRD die Fälle des gewaltsamen Verschwindenlassens von Lamas, Mönchen, Nonnen, Intellektuellen, Schriftstellern, Künstlern, Bauern, Gemeindevorstehern und Studenten, von denen die meisten als Verdächtige im Hinblick auf die „nationale Sicherheit“ eingestuft wurden, entweder wegen „Enthüllung von Staatsgeheimnissen“ oder „Gefährdung der Staatssicherheit“.

Zu den jüngsten Opfern des gewaltsamen Verschwindenlassens gehören Norsang (1) und Lhadar (2) aus der Gemeinde Tachen in der Präfektur Nagchu (chin. Naqu), Autonome Region Tibet. Sie wurden 2019 im Vorfeld des 70. Gründungsjubiläums der Volksrepublik China inhaftiert, weil sie sich der erzwungenen patriotischen Erziehung widersetzt hatten.

Der 36-jährige Norsang wurde im September 2019 und der 37-jährige Lhadar im Oktober 2019 vom Büro für öffentliche Sicherheit (PSB) unter Gewaltanwendung  festgenommen und inhaftiert.

Als im Mai 2020 die Nachricht vom Verschwinden der zwei Tibeter auftauchte, richtete das TCHRD einen dringenden Appell an die WGEID, ihre Fälle zu überprüfen. Die Arbeitsgruppe prüfte die Fälle auf ihrer 122. Sitzung und übermittelte sie am 2. November 2020 an China mit der Bitte um Informationen über das Schicksal und den Verbleib der beiden.

Im Mai 2021 wurde bekannt, daß Norsang eine Woche nach seiner Inhaftierung im Jahr 2019 in der Haft verstorben war. Eine zuverlässige Quelle teilte dem TCHRD mit, daß er schwere Schlägen und Folter zu erdulden hatte, was zu seinem Tod führte.

Die Nachricht von seiner Verhaftung und seinem Tod war aufgrund der herrschenden Beschränkungen jeglicher Art von Kommunikation um Monate und Jahre verzögert.

Nach wie vor verschwinden jedes Jahr Tibeter, wodurch für das Familienleben und den Zusammenhalt der Gemeinschaft, die ohnehin schon in jeder Hinsicht gestört ist, kein Platz mehr bleibt.

Das TCHRD schließt sich dem Aufruf des UN-Generalsekretärs an alle Staaten an, die Konvention zu ratifizieren und mit dem Ausschuß für das Verschwindenlassen von Personen und der WGEID zusammenzuarbeiten.

China steht ganz oben auf der Liste der Staaten, die dieses wichtige internationale Menschenrechtsabkommen ratifizieren müssen. Artikel 73 und Artikel 83 des chinesischen Strafverfahrensgesetzes ermöglichen das Verschwindenlassen und müssen daher durch international akzeptable Verfahrensgarantien für Personen, die der Gefährdung der Staatssicherheit und des Terrorismus verdächtigt werden, ersetzt werden.

Wir fordern China auf, alle tibetischen politischen Dissidenten, denen Gewalt angetan wurde und die verschwunden sind, freizulassen und die Familien über ihren Aufenthaltsort und ihren Zustand zu informieren.

(1) 5. Mai 2021, Tibetischer Vater von sechs Kindern, der sich der politischen „Umerziehung“ der KPC widersetzte, 2019 zu Tode gefoltert,
http://www.igfm-muenchen.de/tibet/diir/2021/Norsang_5.5.21.html

(2) 7. Nov. 2019, Verbleib eines Tibeters seit seiner Festnahme im letzten Monat unbekannt, http://www.igfm-muenchen.de/tibet/diir/2019/Lhadar_7.11.19.html