2. September 2008
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Quelle: www.Chinadigitaltimes.net

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Das „Olympia-Tagebuch“ eines Tibeters

Bei dem folgenden Tagebuch handelt es sich um das Blog eines tibetischen Studenten in Amdo, das ursprünglich in chinesischer Sprache auf der chinesischsprachigen Website newcenturynews.com plaziert wurde und dessen englische Übersetzung auf chinadigitaltimes.net erschienen ist. Das Blog ermöglicht einen Blick in das Leben in einer entlegenen tibetischen Region, während in Peking die Olympischen Spiele zelebriert wurden:

Heute ist Dienstag, der 22. Juli 2008 und der zehnte Tag seit meiner Rückkehr in meine Heimatstadt. Obwohl ich die ganze Zeit kein TV sah noch ins Internet ging, habe ich dennoch auch in diesem entlegenen Winkel Tibets im Haus eines Landsmannes von den Spielen in Peking gehört und einiges mitbekommen. Deshalb habe ich beschlossen, ein besonderes Tagebuch zu führen – ein Olympia-Tagebuch. Ich möchte meine Gedanken und Gefühle schildern, als die Olympischen Spielen in Peking begannen und ich hier, an diesem entlegenen Ort, ohne Zugang zu Fernsehen oder Internet war.

22. Juli 2008 - Der Geist Olympias weht mich an

Beim Frühstück erzählte mein Vater, der gerade vom Viehhüten zurückgekommen war, er hätte am Ende der Brücke über den großen Fluß einen neuen Unterstand (diaobao) aus Sandsäcken gesehen, bei dem Soldaten in voller Kampfmontur auf Posten stünden. Mein Vater war verwundert über die Geschwindigkeit, mit der das geschah, und meinte: „Gestern war noch nichts zu sehen und heute früh steht das Ding einfach so da“. Wir sprachen beim Frühstück nur über dies. Obwohl es niemals zuvor einen Unterstand an der Brücke gegeben hatte, war doch keiner erregt über dessen plötzliches Auftauchen. Der Ansicht meiner Familie nach handelte es sich dabei um eine Maßnahme, die mit der bevorstehenden Olympiade im Zusammenhang steht. Ich war verblüfft, wie ruhig und gelassen meine Familie das hinnahm und wie einig sie sich über die Gründe für die Errichtung des Bunkers waren. Dann wurde mir klar, daß sie an solche Handlungen der Regierung gewöhnt waren, zumal jetzt, im Vorfeld der Olympischen Spiele.

Am Mittagstisch sagte mein Vater, er habe gehört, daß alle Bezirksverwaltungen in der ganzen Präfektur abgeriegelt und der gesamte öffentliche Verkehr eingestellt würde und daß niemand von einem Bezirk in den anderen reisen dürfte. Ich fragte meinen Vater, wie das denn sein könnte, worauf er meinte, alles sei möglich, nach dem 14. März hätten sie das auch schon so gemacht. Damals hatte man den Verkehr komplett eingestellt, und nur vereinzelte Limousinen durften sich nach akribischer und mehrfacher Kontrolle zwischen den Bezirken bewegen. Als ich die Worte meines Vaters hörte, hatte ich sofort das Gefühl, daß es wieder so kommen könnte und die Regierung zu allem möglichen imstande wäre. Wenn sie nur sicherstellen können, daß es während der Olympiade zu keinen unliebsamen Vorfällen kommt und ihren Vorgesetzten berichten können, sie hätten ihre Pflicht erfüllt, dann spielt es doch keine Rolle, wenn die Bevölkerung in ihren normalen Lebensgewohnheiten gestört wird und ihre übliche gesellschaftliche Ordnung durcheinander gerät. Über so etwas brauchen sie sich nicht einmal Gedanken machen, geschweige denn Erklärungen für ihr Tun abzugeben.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger gefiel es mir! Was sollte ich bloß mit dem Geschenk für Z. machen, wenn im August der Verwaltungssitz abgeriegelt wird? Eigentlich hatte ich ihm das Ende August schicken wollen, aber wenn wir dann unsere Stadt nicht mehr verlassen dürften, wäre das ja nicht möglich und ich könnte auch nicht nach Chengdu fahren. Nach einigem Nachdenken entschloß ich mich, das Geschenk an meinen Freund in Peking zu schicken.

Also ging ich am Nachmittag zum Postamt, wo schon eine Menge Leute anstanden. In den kleinen Landpoststellen muß man keine Nummern ziehen und sich auch nicht geordnet anstellen, deshalb drängelten sich einfach alle nach vorne. Nachdem ich es endlich an den Schalter geschafft hatte und einige chinesische Arbeiter vor mir ihre Überweisungen erledigt hatten, fragte mich der Schalterbeamte, was ich verschicken wollte und erklärte mir dann, während der Olympischen Spiele könnte man einige Dinge nicht aufgeben, die man sonst problemlos versenden konnte. Ich dachte mir: Olympiade hin oder her – wenn das so weiter geht, erlauben sie den Leuten während der Spiele nicht einmal mehr, zu atmen. Ich fragte den Beamten: „Warum soll ich das nicht verschicken können? Es ist nur ein kleines Geschenk?“ Ich sollte froh, sein, daß die Regierung dieses kleine Spielzeug nicht auf die Liste der gesperrten Güter gesetzt hatte. Nach einigem hin und her konnte ich das Geschenk schließlich doch verschicken.

Ach, ich spürte schon, wie mir der Olympische Geist ins Gesicht wehte.

Mittwoch, 23. Juli 2008 – Raupenkeulenpilze, Kiefernpilze und die Olympiade

In den Bergen gibt es jetzt jede Menge Kiefernpilze (matsutake). Die Familien in unserem Städtchen verdienen den größten Teil ihres Einkommens mit Raupenpilzen (cordyceps sinensis) und Kiefernpilzen; alle verfolgen eifrig den Marktpreis und blicken aufgeregt der Pilzsaison entgegen.

Nachmittags kam der Schwager meiner Mutter zu uns, um mit meinem Onkel über das diesjährige Pilzgeschäft zu reden. Wie ich ihrem Gespräch entnahm, wurde unter den einfachen Leuten schon seit einem Jahr gemunkelt, daß während der Olympischen Spiele sehr viele Ausländer nach Peking kämen und es dort eine große Nachfrage nach beiden Pilzsorten gäbe.

Im vergangenen Jahr und Anfang dieses Jahres lag der Preis für cordyceps sehr hoch, aber auf das Ende der Cordyceps-Saison hin begann er zu fallen und schließlich betrug der Durchschnittspreis nur noch zwei Drittel vom Anfangswert. Weil sich die einfachen Leute eine große Nachfrage während der Olympischen Spiele erhofften, haben viele von ihnen sogar einen Teil der Vorjahresernte aufgespart, um sie jetzt für mehr Geld zu verkaufen. Tatsächlich führte die Olympiade zu einer Marktbelebung, aber diese wirkte sich leider negativ für uns aus. Jetzt, kurz vor Beginn der Spiele, war der Preis völlig nach unten gegangen.

Mein Onkel sagte, dieses Jahr sei auch der Markt für Kiefernpilze ziemlich flau. Früher sind chinesische Kaufleute aus dem Kernland in Scharen angerückt, noch bevor die Saison überhaupt angefangen hatte. Dieses Jahr sind die Pilze schon am Wachsen und es sind noch ganz wenige Kaufleute gekommen. Zudem ist der Preis viel niedriger als letztes Jahr. Auf Grund der verbesserten Transportmöglichkeiten wurden in den vergangenen Jahren weniger gegarte, dafür aber mehr gefrorene Pilze nach China und ins Ausland gebracht. Manchmal wurden die Pilze auch zerkleinert und getrocknet verkauft. Mein Onkel sagte, wenn die Bezirksstadt abgeriegelt werde, könnten die Tibeter nicht mehr nach China reisen, und schon jetzt sei dies viel schwieriger als früher. Es gäbe so viele Checkpoints unterwegs und in China seien Tibeter in den Hotels nicht gern gesehen. Gewöhnlich würden sie den Tibetern nun die Aufnahme verweigern. Wenn die Behörden keine Bewegung von Fahrzeugen und Menschen zwischen den Städten mehr zulassen würden, dann wäre das ein vernichtender Schlag für den Pilzmarkt.

Mit erzwungenem Lächeln fügte mein Onkel hinzu: “Anfangs dachte ich, die Olympiade würde uns einfachen Leuten Glück bringen – mit so was, wie jetzt, hätte ich niemals gerechnet. Wenn das so weitergeht, können wir gar nichts mehr machen. Mir scheint, daß ich während der Olympiade nur noch zu Hause hocken und sie am Fernseher verfolgen kann.“

Samstag 26. Juli, Das Olympia-Syndrom

Heute morgen hat mein jüngerer Bruder einen Anruf von einem Freund aus unserem Dorf bekommen. Ein paar von dessen Freunde hatten zuviel getrunken und sich dann mit der Patrouille (in China als die „110“ bekannt) angelegt. Als Ergebnis wurden sie übel verdroschen und in Gewahrsam genommen. Er rief nun meinen Bruder an, weil er hoffte, dieser könnte einige unserer Verwandten, die beim Public Security Bureau arbeiten, dazu bringen, für sie ein gutes Wort einzulegen und ihre Freilassung zu erwirken. Als er das erzählte, hielt ihm mein Vater gleich einen Vortrag: „Wir haben gerade die Olympiade vor uns. Das ist eine ganz besondere Zeit. Du mußt sehr vorsichtig sein und solltest nicht nach Lust und Laune ausgehen. Wenn irgendwas Dummes passiert, wird dich die Patrouille ohne Wenn und Aber als schädliches Element behandeln, das die Stabilität der Gesellschaft sabotieren will. Die geben dir dann mehr zu kauen als du schlucken kannst.“ Er fügte hinzu, wenn jetzt nicht gerade die Olympiade bevorstünde, hätte man diese Trunkenbolde schon längst freigelassen, und deshalb müsse mein Bruder sehr vorsichtig sein.

Nachmittags rief einer meiner Freunde an und erzählte mir, eine britische Freundin von mir sei aus Peking abgeschoben worden. Sie ist eine tibetischstämmige Britin in zweiter Generation, im Ausland aufgewachsen und Absolventin einer weltberühmten Universität. Sie spricht mehrere Sprachen fließend und hat in Peking unterrichtet. Wir beide hatten immer viel zusammen zu reden und unterhielten uns oft über unsere Hobbys, Neigungen und die oftmals unterschiedlichen Ansichten der Tibeter in Tibet und im Ausland. Bei meiner Abreise aus Peking mahnte ich sie, gut auf sich aufzupassen und besonders während der Spiele äußerst vorsichtig zu sein, denn die Regierung sei derzeit extrem nervös und angespannt und man brauche gar nicht Besonderes getan zu haben, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als Tibeterin, als Tibeterin in Peking und insbesondere als Tibeterin aus Übersee in Peking werden all ihre Aktivitäten sehr genau überwacht. Da ich keinen Internet-Zugang habe und auch nicht fernsehe, kann ich keine Details über ihre Ausweisung erfahren. Ich weiß nur, was mir mein Freund am Telefon erzählt hat: Daß sie zu Hause war, als sie festgenommen wurde, und man sie mehrere Stunden lang verhört hat, bevor sie in ein Flugzeug nach Großbritannien gesetzt wurde. Der Sprecher des Außenministeriums sagte später, sie gehöre zum harten Kern des Tibetischen Jugendkongresses. Sie war der Ansicht, daß sie nichts getan hatte, was gegen die chinesischen Gesetze verstoßen hätte, und ihr Visum war auch noch nicht abgelaufen, weshalb sie sehr wütend war. Als sie von den PSB-Beamten verlangte, die Beweise gegen sich zu sehen, antworteten ihr diese Leute nur, sie wüßte doch selbst, was sie getan hätte. Ich weiß, daß sie, als sie im April von einem Aufenthalt in Großbritannien nach China zurückkehrte, gleich am Flughafen über zwei Stunden lang verhört wurde, und das nur, weil sie eine Tibeterin ist. Und höchstwahrscheinlich ist das auch der Grund für ihre Ausweisung.

Mir kommt gerade in den Sinn, daß es ja die Olympischen Spiele sind, denen ich es verdanke, daß ich nach Hause fahren und ausgiebig Ferien machen kann. Spätestens seit Juni, aber eigentlich schon seit den Ereignissen vom 14. März haben es die Tibeter in Peking nicht leicht gehabt. Im Mai fuhr ich mit der Eisenbahn von Lhasa nach Peking. Im Zug hat mich die Polizei wiederholt kontrolliert und jedes Mal die Nummer meines Personalausweises notiert. Nach der Ankunft in Peking erfuhr ich von dort lebenden Tibetern, daß aus allen tibetischen Regionen Angehörige des Public Security Bureau (PSB) in die Hauptstadt gekommen seien, um die Tibeter aus ihrer jeweiligen Gegend zu befragen und zu beobachten, und sie würden bis zum Ende der Spiele bleiben. Nach und nach verließen immer mehr Tibeter, die in Peking arbeiten, die Stadt in Richtung Heimat. Wie ich, beabsichtigen sie, erst nach der Olympiade zurückzukehren.

Als ich einmal in einer tibetischen Gegend gemeinsam mit ausländischen Touristen beim Essen saß, sagten diese, alle Chinesen litten unter dem „Olympia-Syndrom“. In der Tat sind alle Chinesen davon gepackt worden und es äußert sich auf unterschiedliche Weise. Manche sind aufgeregt, andere verängstigt. Manche freuen sich auf die Spiele und anderen graut es davor. Für manche Leute ist die Olympiade wie Ferien und für andere ist sie eher ein Alptraum. Dieser ausländische Tourist meinte, seinem Gefühl nach sei die „Olympiade“ für die meisten Tibeter zu etwas geworden, das sie nur verwünschen können.

Tatsächlich sind die Spiele schon so etwas wie eine Krankheit, zum Beispiel wie SARS geworden, zumindest für die tibetischen Gebiete und das tibetische Volk. Viele Tibeter sind aus Peking geflohen so wie ich, als ob wir auf der Flucht vor SARS wären. Als ich dann in Tibet eintraf, sah ich, wie sich die örtlichen Behörden kampfbereit gemacht hatten und obwohl es nicht SARS war, ist es doch eher wie bei einer Seuche infolge der Kontrollposten an allen Kreuzungen und dem Umstand, daß in Kürze die ganze Bezirksstadt abgeriegelt werden soll.

Was wir zu vermeiden suchen, sind ja gar nicht die Olympischen Spiele. Die meisten von uns würden sich vermutlich auf das größte Sportschauspiel der Welt freuen und gerne in Peking bleiben, wenn wir nicht die zweifelhafte Ehre genössen, als Bürger zweiter Klasse und mutmaßliche Terroristen betrachtet zu werden.

Die Olympiade ist wie ein Spiegel, der die Situation der Tibeter in China zeigt.

Dienstag, 29. Juli 2008 - Die Olympiade ist schon seltsam

Ich habe viele meiner Mit-Dorfbewohner getroffen. Sie haben mich gefragt, warum ich nicht in Peking geblieben sei, um mir die Spiele anzuschauen. Ich konnte nur lachen und ihnen antworten, in Peking seien zu viele Menschen und deshalb sei ich zurückgekommen, um die Spiele hier am TV anzuschauen.

In der Nacht sah ich die Scheinwerfer von Polizeiautos aufleuchten und viele Leute zusammenlaufen. Von einem Freund, der Polizist ist, erfuhr ich, seit heute Abend sei das PSB vor allem damit beauftragt, jeden Tag alle Auswärtigen in der Stadt, insbesondere Tibeter, die von anders woher kommen, zu kontrollieren und zu registrieren. Das sei eine der Maßnahmen, meinte mein Freund, mit denen das örtliche PSB die Olympiade willkommen hieße.

Tatsächlich hat das PSB in unserem Bezirk schon lange damit begonnen, die Olympiade vorzubereiten. Auf der Hauptstraße, die gerade mal zwei Kilometer lang ist, hat die Polizei schon Monitoren installiert und in der Umgebung der örtlichen Klöster gibt es ebenfalls Videokameras. Es heißt, daß die Kameras in den Klöstern direkt vom Public Security Bureau der Präfektur überwacht würden.

Mein Freund, der Polizist, hatte Anweisung, die Kreuzung in der Nähe der Bezirksverwaltung zu bewachen. Er mag gern Spaß und Spiel und besucht uns oft mit seinem Motorrad. Er fürchtete, seine Kollegen an den Überwachungsmonitoren könnten ihn zusammen mit uns sehen und so versteckte er sich immer hinter uns oder nahm einen anderen Weg, wenn er mit uns auf der Straße unterwegs war und wir uns einer der Kameras näherten. Als Polizist weiß er ja, wo sich die Kameras befinden. Wir gewöhnlichen Leute hingegen können die Kameras, obwohl wir es gerne täten, nicht umgehen. Der Gedanke kam mir, wenn man die Einwohnerzahl zu der Zahl der Videokameras in Beziehung setzt, wird nicht einmal London, das das dichteste Netz an Überwachungskameras auf der Welt haben soll, dermaßen akribisch überwacht wie unsere kleine Bezirksstadt. So betrachtet, haben die Olympischen Spiele die Modernisierung der tibetischen Gebiete tatsächlich ein gewaltiges Stück vorangebracht!

Am Nachmittag wurde einer meiner Freunde, der als Lehrer auf dem Land arbeitet, zu seiner Arbeitseinheit zurückbefohlen. Die Bezirksverwaltung hat für alle Arbeitseinheiten 24-Stunden-Schichten angeordnet – auch für die Schulen, obwohl die Ferien schon begonnen haben. Das nennt sich dann die „Begrüßung der Olympiade und die Sicherstellung der Stabilität“.

Auf den Straßen unseres Städtchens sind Polizeiautos rund um die Uhr auf Patrouille und Soldaten in voller Kampfmontur bewachen die Hauptstraßen mit der Waffe in der Hand. Die Bezirksverwaltung führt sich auf, als ob sie einem Todfeind gegenüberstünde, und in ihrer Propaganda kehrt das Wort Stabilität immer wieder… Die angespannten und verkrampften Gesichter derjenigen, die für die Regierung arbeiten, bieten einen grotesken Kontrast zu den riesigen roten Bannern mit der Aufschrift „Wir freuen uns auf die Olympischen Spiele“, die überall über den Strassen hängen.

Die Olympischen Spiele sind schon ein seltsames Ereignis!

Donnerstag, 31. Juli 2008 – Was um aller Welt tun wir bloß?

Heute morgen sagte mir meine Schwester, die zur Grundschule geht: „Bruder, die Olympischen Spiele fangen in acht Tagen an. Gestern habe ich im Fernsehen den Bürgermeister von Peking gesehen und er hat geweint“. Auf meine Frage nach dem Grund dafür meinte sie, er sei wohl vor lauter Glück in Tränen ausgebrochen.

Nachmittags warf ich einen Blick auf Bilder, die auf dem Dorfplatz ausgestellt wurden. Auf der einen Seite des Platzes haben sie Bilder von der Geschichte der Olympischen Spiele und den Vorbereitungen für die Olympiade aufgestellt und auf der anderen Fotos über die dunkle Zeit der Sklaverei im alten Tibet, die „verwerflichen Taten der Dalai Clique“ und die „umwälzenden“ Neuerungen in den tibetischen Gebieten nach der Gründung des Neuen China.

Als es im Ausland beim Fackellauf zu Demonstrationen kam, hat die chinesische Regierung das scharf kritisiert und gesagt, die olympischen Spiele dürften nicht politisiert werden; als jedoch dieselbe Fackel vor dem Potala-Palast brannte, behauptete die chinesische Führung, die Kritik des Parteisekretärs der Autonomen Region Tibet Zhang Qingli am Dalai Lama sei nur eine persönliche Meinungsäußerung. Inzwischen ist die Fackel auf dem Weg nach Peking und unser kleines Städtchen wirbt nicht nur für die Spiele, sondern tadelt dabei gleichzeitig den Dalai Lama. Darf man da fragen, wer denn nun wirklich die olympischen Spiele politisiert?

Ein Freund, der in der der Propagandaabteilung arbeitet, wurde abgestellt, um die in der Gegend stationierten Soldaten in den örtlichen Dialekt einzuführen. Er erzählte, er habe den Soldaten beibringenmüssen, wie man „stehenbleiben“, „keine Bewegung“ und „Tibeter und Chinesen gehören zur gleichen Familie“ und ähnliches mehr auf Tibetisch ausdrückt.

Er sagte, die Soldaten hätten ihn gefragt, ob es wahr sei, daß die Mönche in den Klöstern der Gegend kräftige Kerle und gute Kämpfer seien. Das hätten sie gehört.

Mein Freund sprach davon, wie schwer es für ihn gewesen sei, den Soldaten einerseits solche Befehle wie „bleib stehen“, „beweg dich nicht“ und andererseits den dazu völlig widersprüchlichen Satz „Tibeter und Chinesen gehören zur selben Familie“ einzutrichtern. Regelrecht gegraut habe es ihm jedoch, als er diese Fragen von den bis an die Zähne bewaffneten Soldaten hörte, für welche die bei uns hochangesehenen Klöster und Mönche Feinde sind. Ihm fehlten die Worte.

Er ließ den Kopf hängen und sagte mehrmals: „Wir helfen noch diesen Fremden, deren Job es ist, hier Krieg zu führe, und ihre Zielscheibe sind die Mönche, die wir so hoch achten und unsere Landsleute.

Was tun wir bloß? Was um aller Welt tun wir bloß?

Freitag, 1. August - Der Feiertag

Heute ist der Tag der Armee. Die Lokalregierung hat dazu eine Vorstellung mit dem Motto „Die Olympiade willkommen heißen und den 1. August feiern“ organisiert. Die Darsteller waren hauptsächlich Offiziere und Soldaten der Truppen, die nach den „Ereignissen vom 14. März“ in unsere Gegend entsandt wurden sowie Mitglieder einer Künstlergruppe, die aus pensionierten Kadern bestand.

In der Nähe des Veranstaltungsplatzes waren viele Polizisten im Einsatz, und zum Publikum gehörte das gesamte politische Führungspersonal des Bezirks. Soldaten und paramilitärische Kräfte schauten ebenfalls zu und es kamen auch viele normale Leute, um sich an den Darbietungen zu erfreuen.

Den Anfang der Vorführung machte die Künstlertruppe der Pensionäre mit dem Lied „Töchter einer Mutter“. Es folgten noch weitere Lieder und Tänze. Alle dienten entweder dem Lobpreis des Mutterlandes oder der KP. Diese Leute haben ihr ganzes Leben lang innerhalb des Systems der KP gearbeitet, sie setzen sich nicht einmal nach ihrer Pensionierung zur Ruhe, sondern tragen noch immer zur „kommunistischen Sache“ bei. Als Mitglieder derjenigen Gruppe, die tatsächlich vom System profitiert hat, verfügen sie über genügend Zeit und Energie, um diese Vorführungen perfekt einzuüben, die dann insbesondere den führenden Kadern dargeboten werden. Sie haben es nicht nötig, sich für ihren Lebensunterhalt abzuschinden wie die große Mehrheit der Tibeter.  

Als Profiteure der kommunistischen Invasion Tibets haben sie Grund genug, um die Partei, die ihnen das schöne neue Leben ermöglicht hat, zu loben und zu preisen.

Der Moderator sprach von den seit den „März-Ereignissen“ in unserer Gegend stationierten Truppen als den „Soldaten, die die Region bewachen“. Was sie darboten, war jedoch nicht das, was ich erwartet hatte, für mich war das ein Einschüchterungsversuch, der Entsetzen und Abscheu bei den Leuten hervorrief. Sie führten chinesischen Kampfsport vor, zeigten Faustkämpfe, zerbrachen Stöcke mit den unterschiedlichsten Körperpartien, legten sich einen Stapel Ziegel auf den Körper, den sie dann mit einem Hammer zertrümmerten, und zeigten diverse Arten, wie man „Schurken“ mit blitzenden Dolchen bändigen kann… Die einfachen Leute schauten gebannt und verängstigt zu. Jedes Mal, wenn sie ein gewagtes Kunststück aufführten, schrieen die Zuschauer unweit der Tribüne auf, denn sie meinten, daß die Darsteller durch die Stöcke verletzt werden könnten. Eine alte Frau neben mir flehte immer wieder: „Macht das nicht. Warum sollte jemand so etwas tun? Das muß furchtbar wehtun. Mögen die drei Juwelen diese armen Kinder segnen.“ Nach der Vorführung staunten die Leute immer noch über die Geschicklichkeit dieser Soldaten und waren in gewisser Weise beeindruckt.

Ach, meine naiven Landsleute, ist es euch denn nicht klar, daß diese grausamen Akrobatikstücke, die sie da vorführten, speziell für uns gedacht sind?. Meine gutherzigen Landsleute, als diese Soldaten mit offensichtlichem Vergnügen die verschiedenen Methoden darstellten, um uns in unserem eigenen Lande zu foltern, haben wir es nicht einmal als Einschüchterung oder Provokation wahrgenommen, sondern uns im Gegenteil noch um sie gesorgt und das Ganze als etwas Außergewöhnliches gewürdigt. Meine Landsleute, in diesem Spiel sind wir die einzig Bemitleidenswerten, nicht sie!

Während der gesamten Vorführung lächelten die Führungskader. Ich weiß nicht, ob sie das wegen der Videokameras taten, um einen guten Hintergrund für die festliche Atmosphäre zu bieten oder ob sie sich wirklich so sehr an der Vorstellung ergötzten. Sie können wahrlich zufrieden sein, denn ihre Vorstellung hat den Zweck erreicht, den sie sich davon erhofften.

Als ich später über dieses Programm nachdachte, das nun so oder ähnlich überall in Tibet und an jedem beliebigen Feiertag aufgeführt wird, und darüber, daß es etwas ganz Normales in den tibetischen Regionen geworden ist, wurde mir eine Tatsache klar: Auf der großen Bühne des gesamten tibetischen Landes sollten wir Tibeter eigentlich die Hauptrolle spielen, aber die meisten von uns sind zu passiven Zuschauern geworden. Doch Regisseure und Hauptdarsteller sind nur eine ganz kleine Anzahl von Tibetern, jene Interessengruppe nämlich, die von dem gegenwärtigen System profitiert hat, also Armee- und Regierungsangehörige, die sich mit der starken Besatzungsmacht identifizieren. Die Bühnendekoration, der Programmablauf, die zeitliche Planung und der Ort für diese Aufführungen – alles wird von diesen Leuten bestimmt. Diese zwei Gruppen von Leuten haben auf der Bühne bestens zusammengearbeitet und einander gepriesen und geschmeichelt. Offenbar haben sie ein hervorragendes Verhältnis zueinander und halten sich tatsächlich für die Hauptdarsteller.

Also, wie ist das nun mit unseren tibetischen Mitbürgern? Wir können noch nicht einmal in unserer Heimat mit unserer eigenen Stimme sprechen, wir werden in unserem eigenen Land ins Abseits gedrängt, wir sind Zuschauer auf unserer ureigensten Bühne geworden, machtlos in unserem eigenen Haus, doch der Mehrheit unserer Leute wird das nicht einmal bewußt, denn sie sind einfach verwirrt. Selbst wenn einigen etwa auffällt, daß da etwas nicht stimmt, wollen sie sich mit der Sache nicht weiter befassen. Spüren sie denn nicht, daß sie sich auf diese Weise nie aus ihrer verzweifelten Lage befreien können werden? Glauben sie etwa, es sei besser, ihre eigene Vergewaltigung zu genießen, anstatt Widerstand zu leisten? Haben sie sich vielleicht nach der x-ten Vergewaltigung sogar in ihre Vergewaltiger verliebt? Stecken wir noch nicht tief genug im Unglück? Oder kann es sein, daß wir wegen unserer gütigen und mitfühlenden Herzen nicht mehr rational denken können?

Während der gesamten Vorstellung habe ich auf der Bühne nicht einen einzigen tibetischen Satz gehört – weder vom Moderator noch von den Schauspielern.

Was ich auf der Bühne gesehen habe, waren Tibeter in traditioneller, mit Tigerfell verbrämter Kleidung, die tibetische Lieder auf Chinesisch sangen!

Die Darsteller gaben ihr bestes, das Publikum hat sich bestens amüsiert, die Führungskader waren mit der Vorstellung zufrieden – also war doch jeder glücklich.

Ich betrachtete sie und dann mich selbst. In diesem Augenblick hätte ich am liebsten geweint.

5. August 2008 - Die Fackel in Chengdu und die Fackel in Lhasa

Wie ich gehört habe, soll es in Xinjiang angeblich Anschläge auf das Militär gegeben haben. Meine ganze Familie dachte, diese seien von den „Uigurischen Separatisten“ verübt worden, um die Olympischen Spiele zu stören. Meine gütige Mutter seufzte: „Die Regierung hat sich so lange so sehr um die Vorbereitungen bemüht und will sicherlich, daß die Olympiade gut verläuft. Warum wollen diese Leute sie sabotieren? Die Regierung arbeitet so hart, sie sollten lieber dazu beitragen, daß die Spiele gelingen. Wenn sie unbedingt Ärger machen wollen, sollen sie das später tun. Die Regierung ist wirklich zu bedauern“. Meine gute Mutter möchte immer allen anderen bei der Erfüllung ihrer Wünsche helfen - diese Eigenschaft ist allen Tibetern eigen -, aber sie weiß nicht, daß die sogenannten „Separatisten“ ihr Leben riskieren, weil sie für die Voraussetzungen einer menschenwürdigen Existenz kämpfen.

Mein Onkel erzählte, in Chengdu habe heute der Fackellauf stattgefunden. Als er die absurden Positionen der Fackelträger im Fernsehen sah, schien es ihm, als ob diese Leute kein Gewissen hätten. „Wir sollten daran denken, wie kurz das Erdbeben erst zurückliegt. Sie haben offenbar gar kein Gewissen, wie könnten sie sich sonst so arrogant gebärden? Diese Leute sind wirklich überspannt und denken überhaupt nicht an die aktuelle Lage“. Mein Onkel schien sehr aufgebracht.

Ich fragte ihn, ob er im Fernsehen auch den Fackellauf in Lhasa gesehen hätte, was er verneinte. Unser Bezirk gehört zur Provinz Sichuan und führt die Worte „tibetisch“ und „autonom“ in seinem Namen. Doch selbst ungeachtet der Assimilationspolitik und der Massenverdummung der KPC spielt sich in den Augen eines jeden jungen tibetischen Intellektuellen das wahre Leben in Chengdu ab und nicht in Lhasa. Deshalb möchte er sich den Fackellauf in Chengdu sehr genau ansehen, aber nicht den in Lhasa.

Auch Lhasa hatte gerade ein Erdbeben hinter sich, allerdings ein politisches, als nämlich die Fackel dort ankam. Anders als bei dem Fackellauf in Chengdu, wo von dem Erdbeben nichts mehr zu merken war außer ein paar stillen Gedenkminuten. Während des Fackellaufs in Lhasa konnte man genau spüren, daß die Auswirkungen des politischen Erdbebens noch lange nicht verebbt sind.

Obwohl die Behörden in Lhasa alles getan haben, um Bilder von der Begrüßung der Fackel durch die enthusiastischen Tibeter zu zeigen, konnte man trotz allen Geschicks der Filmteams klar erkennen, wie angespannt die Lage in der heiligen Stadt ist und wie viel Angst dort herrscht. Überall waren bewaffnete Polizeikräfte und Militär im Einsatz, die den Fackellauf und die Fackelträger, die als politische Symbole fungierten, bewachten. Nur am Anfangs- und am Endpunkt waren ein paar Leute zu sehen, der Rest der Strecke war fast völlig menschenleer. Die mit Provokationen gespickte Rede von Parteisekretär Zhang Qingli ließ ahnen, daß die Leute in Lhasa den Fackellauf gar nicht wollten, und ihn, wenn überhaupt, nur zum Schein und aus Angst begrüßten.

Wie berichtet, wurde den Leuten in Lhasa gesagt, sie dürften während des Fackellaufs nicht einfach ihre Häuser verlassen, wie es ihnen paßt. Die Gruppen jubelnder Tibeter, die man zu beiden Seiten der Straße im Fernsehen sah, wurden alle von der Regierung handverlesen. Diese Leute wurden schon viele Tage im voraus nach eingehender Prüfung ausgewählt, am Tag vor dem Fackellauf wurden sie zusammengetrommelt und in speziell für sie vorgesehenen Hotels untergebracht. Die Anzahl dieser Leute und ihre Personalien wurden dreimal überprüft. Am Tag des Fackellaufs wurden sie um 4.00 Uhr morgens zusammengerufen. Nach zahllosen Kontrollen legten sie ihre traditionelle Kleidung an und nahmen die roten Fahnen in die Hand, so wie man es von ihnen verlangte, dann wurden sie unter Militärbewachung entlang der Strecke des Fackellaufs aufgestellt. Ihre Aufgabe war es, für das chinesische Fernsehpublikum die Begeisterung und Freude der Menschen von Lhasa über den Fackellauf zu mimen.

Wenn die Fackelträger in Chengdu zu kritisieren waren, weil sie kein Gewissen haben – für die Menschen in Lhasa sollten wir eher Mitgefühl und Traurigkeit empfinden.

Das psychologische und politische „Erdbeben“ wird mehr Schaden anrichten als das geologische, und auf lange Sicht stärkere Auswirkungen haben.

Ich weiß nicht, ob sich die Behörden dessen bewußt sind.

Samstag 9. August 2008 - Die Botschaft der Eröffnungszeremonie an die Welt: China hat nur eine Nationalität, und das ist die han-chinesische!

Erstens: Die Spiele haben begonnen und es scheint, als ob die Chinesen sich nach einer langen Periode der Anspannung endlich etwas entspannen könnten.

Zweitens: Die Eröffnungszeremonie bot ein großartiges Schauspiel und war gleichzeitig eine echte Machtdemonstration. Niemand kann Großereignisse besser in Szene setzen als die Chinesen und es gibt auch nichts, was sie lieber tun als dies. Das herrschende System bietet auch die notwendige Unterstützung für Großereignisse wie die Eröffnungszeremonie. Doch die Kommunistische Partei stellt nicht nur Geld, Personal, Anlagen und Einrichtungen und die bedingungslose Hilfestellung der diversen Regierungsabteilungen bereit, sondern viel wichtiger noch das System seiner despotischen Herrschaft. Egal wie viele Menschen wegen derartiger Veranstaltungen schikaniert werden, wie viel Geld dafür verschwendet wird, wie viel Zeit und Energie dafür aufgewendet werden müssen – so lange das Ziel der KP erreicht wird, sind all diese Dinge, über die sich die Regierungen demokratischer Länder den Kopf zerbrechen, wie sie sie irgendwie berücksichtigen können, bedeutungslos. In China spielt so etwas keine Rolle.

Drittens: Während der Eröffnungszeremonie wurden allerlei Symbole der chinesischen Kultur gezeigt. Darunter waren chinesische Trommeln, chinesische Malerei, die vier wichtigen Werkzeuge des Schreibers – Pinsel, Tintenstab, Tintenstein und Papier, die chinesischen Schriftzeichen, Konfuzius, die Große Mauer, traditionelle Opern, die Seidenstraße, Riten, Musik und das Dao natürlich. Während der mehrstündigen Vorstellung wurden die „fünfundfünfzig Blüten“ (die Minderheiten-Nationalitäten) unter den „sechsundfünfzig Blüten“ nur zweimal im Vorübergehen gezeigt und beide Male konnte ihr Auftritt in Sekunden gezählt werden.

Dem Moderator zufolge sollte die Eröffnungszeremonie die Weisheit der traditionellen chinesischen Kultur sichtbar machen.

Tatsächlich verfügt China über eine lange Geschichte und eine bedeutende Kultur, aber man muß wissen, daß es in China 56 Nationalitäten gibt und nicht nur Han-Chinesen, und daß sie alle eine Geschichte und Kultur haben, die sie der Welt vorzeigen können. Aber mit diesen Olympischen Spielen erklärt China der Welt, daß es sich mit der Ethnie der Han gleichsetzt und die chinesische Geschichte gleichbedeutend mit der Geschichte der Han ist.

Ich hatte anfänglich gewisse Erwartungen auf die Eröffnungszeremonie gesetzt und angenommen, man würde der Weltöffentlichkeit ein umfassenderes Bild bieten und deshalb war ich von all dem, was ich da zu sehen bekam, tief enttäuscht.

Als ich die zweitausendundacht Darsteller, die die Worte des Konfuzius zitierten, in altertümlichen han-chinesischen Gewändern sah, als ich die Große Mauer sah, die als das Symbol der chinesischen Nation bezeichnet wurde, die aber tatsächlich zur Verteidigung gegen die Vorfahren der heutigen Minderheiten diente, und als ich sah, wie die sogenannte chinesische Kultur die Bühne füllte – tatsächlich nur die Kultur der Han-Nationalität –, da wurde es mir wieder sehr seltsam zumute.

Wer ist Konfuzius? Was ist die Große Mauer? Für mich, einen Angehörigen einer Minderheit, deren Kultur, Geschichte und psychische Eigenschaften sich völlig von denen der Han unterscheiden, ist Konfuzius lediglich ein Gelehrter eines fremden Volkes. Obwohl er der Menschheit sicherlich etwas gegeben hat, war er für mich nie ein Vorfahr, auf den ich stolz hätte sein können, und das werde ich auch nie sein. In meinen Augen ist die Große Mauer nur ein Bauwerk, das das Geschick und die harte Arbeit von Menschen vergangener Zeiten widerspiegelt und die man tatsächlich nur deshalb erbaut hatte, um sich gegen die Leute, die man als Barbaren bezeichnete, also unsere Vorfahren, zu verteidigen. Wie also sollten wir Minderheiten auf die Große Mauer stolz sein können?

Geht mir künftig bitte nicht mit solchen Begriffen wie „chinesische Nation“ oder solch heuchlerischen und abstoßenden Phrasen wie „Wir sind alle Abkömmlinge von Yan Di und Huang Di und Kinder der chinesischen Nation“ auf die Nerven. Die Han-Nationalität, die die Macht innehat, hat der Welt und den 100 Millionen Angehörigen von Minderheiten in China erklärt, daß sie China ist und daß ihre Geschichte die Geschichte Chinas ist.

Viertens: Was mich noch trauriger macht, ist zuzuschauen, wie Peking fröhlich feiert, während in den tibetischen Gebieten der Schrecken herrscht. Wir können von Glück reden, daß unsere Stadt trotz der gespannten Atmosphäre und all der Vorsichtsmaßnahmen der Regierung noch nicht abgeriegelt wurde. Darüber sollten wir doch froh sein, oder?

Soweit ist es also gekommen: Während das ganze Land feiert, müssen wir froh sein, daß wir von dem Land, zu dem wir gehören sollen, nicht vollständig abgeriegelt wurden. Ist das nicht absurd?

Wenn wir doch alle zur chinesischen Nation gehören, ist es dann so richtig? Hat das noch irgend etwas mit Vernunft zu tun?

Auf der einen Seite haben die chinesischen Machthaber im Namen des Sports alle Appelle für Freiheit und Demokratie abgefangen und sie unverfroren als „Politisierung der Olympiade“ hingestellt, auf der anderen Seite treiben sie die ganze Welt in die Falle einer Art Karneval, den sie das „Sportereignis der Welt“ nennen, und hoffen dadurch, die Basis für ihre Autokratie konsolidieren zu können, um ihr Ziel zu erreichen – die Sicherung ihrer despotischen Herrschaft auf lange Zeit.

Ein solch niederträchtiges Vorgehen ist genau ihr Stil.