4. Oktober 2008
World Tibet News, www.tibet.ca

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Auch sechs Monate nach den Protesten in Lhasa ist die Situation sehr angespannt

Sechs Monate nach den Unruhen in Lhasa befindet sich die tibetische Hauptstadt noch immer unter scharfer Überwachung. An jedem touristisch sehenswerten Punkt sind bewaffnete Volkspolizisten (PAP) stationiert, die auch ständig durch das Zentrum der Stadt patrouillieren. Der Polizeichef und einer der stellvertretenden Gouverneure der Region wurden in der vergangenen Woche entlassen, ohne daß ein Grund dafür genannt worden wäre.

Hochrangige Funktionäre bezeichnen die Situation in Tibet als „wieder stabil“ und „normal“. Doch die intensive paramilitärische Präsenz macht deutlich, daß sie der Ruhe nicht trauen. Das nächste Jahr ist besonders heikel, weil sich der Volksaufstand der Tibeter gegen die chinesische Regierung von 1959, der zur Flucht des Dalai Lama ins Exil führte, zum 50. Male jährt.

Die chinesischen Behörden erklärten, 23 Personen seien bei den gewaltsamen Ausschreitungen in Lhasa am 14. März ums Leben gekommen. Die tibetische Exil-Regierung spricht hingegen von mehreren hundert Toten in Lhasa und anderen Teilen Chinas, in denen es zu Demonstrationen kam. Diese Zahlen sind nicht verifizierbar angesichts der Nachrichtensperre und der schwierigen Situation bei der Berichterstattung.

The Guardian ist die erste britische Zeitung, der es seit März gelang, Erlaubnis für eine Reise nach Tibet zu erhalten. Auf Lhasas engen Straßen herrscht heute wieder geschäftiges Treiben: Überall sieht man Verkäufer, Pilger und kleine Gruppen ausländischer Touristen. Doch ein Einwohner Lhasas sagte, die Atmosphäre sei nach wie vor angespannt und die religiösen Aktivitäten spielten sich überwiegend im Untergrund ab. Überall in der Stadt sind paramilitärische Einheiten zu sehen, die mit Gewehren, Schlagstöcken und Abwehrschilden bewaffnet sind.

„Die Zwischenfälle des 14. März wirkten sich schädlich auf die Wirtschaft und die soziale Entwicklung in Tibet aus“, sagte Hu Xinsheng, stellvertretender Direktor der Kommission für Entwicklung und Reform in Tibet. Die Auswirkungen auf die Tourismus-Industrie in der Region sind besonders gravierend; vor allem, weil Tibet drei Monate lang für ausländische Touristen nicht zugänglich war. „Die Ausschreitungen vom 14. März wirkten sich sehr negativ auf das Bild aus, das sich die Welt sonst von Tibet macht und das bisher von Sicherheit und Schönheit geprägt war“, kommentierte Yu Yungui, stellvertretender Direktor des Touristenbüros.

Das heutige Lhasa ist eine seltsame Mischung aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Zeitaltern: Straßenverkäufer verkaufen von ihren Handwagen aus handgemachte Yak-Butter, während nicht weit davon entfernt hinter glitzernden Geschäftsfassaden Nike angepriesen wird. Sowohl die chinesische als auch die tibetische Sprache ist auf den Straßen zu hören.

Die chinesischen Behörden weisen den Vorwurf zurück, daß die Tumulte des Frühlings 2008 sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gründen zuzuschreiben seien, obwohl ein hochrangiger Beamter zugab, daß arbeitslose Jugendliche aus ländlichen Gegenden Tibets in die Unruhen verwickelt gewesen sind.

„Es handelte sich bei den Ausschreitungen um einen Zwischenfall, der von einer kleinen Anzahl gesetzloser Menschen unter Anleitung des Dalai Lama und der Dalai Clique angezettelt worden ist, um die Einheit Tibets zu zerstören“, sagte Yu.

Nur ein paar wenige Menschen waren bereit, mit den Journalisten von The Guardian zu sprechen. Ein Han-Chinese fragte, ob die Zeitung etwas gegen die Chinesen habe. Er meinte, Engländer könnten sagen, was sie denken, während es in Lhasa sehr gefährlich sei, dies zu tun. Auf die Frage, ob der Grund dafür die gewaltsamen Ausschreitungen vom März 2008 seien, erwiderte er nur: „Selbst wenn es schneit, darf man nicht sagen, daß es schneit.“

Ein Mönch in einer Teebude schien etwas von sich geben zu wollen, doch plötzlich wandte er den Kopf zur Seite, denn er sah er einen Mann hereinkommen, und sagte schnell: „Entschuldigung, ich verstehe Sie nicht.“

„Die Mönche in den Klöstern sind sehr glücklich und dankbar für die Fürsorge, die die Regierung ihnen angedeihen läßt“, tönte der Leiter des Amtes für religiöse und ethnische Angelegenheiten.

Auf die Frage, was mit den 30 Mönchen vom Jokhang Tempel geschehen sei, die im März in der ganzen Welt Schlagzeilen machten, weil sie eine offizielle Medientour unterbrachen und den Reportern offen erklärten, sie hätten keine Religionsfreiheit, antwortete er, von solch einem Vorfall habe er nie etwas gehört. Damals hatten die Offiziellen versprochen, daß die Mönche nicht bestraft würden, aber niemand hat sie seitdem gesehen.

Die Situation in den von Tibetern bewohnten Nachbarprovinzen, in denen es ebenfalls zu friedlichen Protesten gekommen war, scheint nicht ganz so gespannt zu sein. Dennoch haben viele Menschen in der Provinz Qinghai Angst davor, mit den Journalisten zu sprechen. Ein Lama meinte schließlich, die allgemeine Verbitterung über die ständige Diskriminierung und Ausgrenzung sei übergekocht mit der Folge, daß es zu den Zusammenstößen, Razzien und Massenverhaftungen kam. „Wir Tibeter haben keine Freiheit – wir können kein einziges Wort sagen. Für uns gibt es einfach keine Freiheit!“

Quelle: The Guardian