26. August 2018
Jamyang Norbu, www.jamyangnorbu.com

Der erste „Samen eines zukünftigen Tibets“ - Tsewang Norbu “Tak-Go“ in Memoriam (1949-2018)

Das erste Mal traf ich Tsewang Norbu-la 1999 bei der Frankfurter Buchmesse. Ich meine, das „Tibet Forum“ hätte dort einen Stand betrieben, um neueste Publikationen über Tibet bekannt zu machen, darunter auch Tsering Shakyas „Dragon in the Land of Snows“ und meinen eigenen Krimi „Mandala of Sherlock Holmes“.

Unter den am Tibet-Forum-Stand versammelten Tibet-Freunden und Unterstützern war auch dieser ganz eigen aussehende Tibeter. Er trug langes, struppiges Haar, das aus einem enormen Vollbart zu entspringen schien - es war fast unmöglich zu sagen, wo das eine endete und der andere begann. Vielleicht habe ich ihn beim Händeschütteln unbeabsichtigt etwas zu intensiv angeschaut, denn er fragte scherzhaft: „Haben Sie mich denn für Asahara gehalten?“ (den japanischen Weltuntergangs-Sektenführer). Doch die Fülle von Tsewang-la’s Bartwuchs konnte das intelligente Zwinkern seiner Augen und die Wärme seines Lächelns nicht verbergen. Wir wurden sofort gute Freunde.

Ein weiteres auffallendes Merkmal in Tsewang Norbus Erscheinung, das ich unbedingt erwähnen muß, war das T-Shirt, das er trug. Darauf war ein großes Bild eines Tigers auf Beutezug. Wie ich später entdeckte, waren Tiger seine Sache. Es schien mir, daß er einen ganzen Kleiderschrank voller verschiedenartiger Tiger-T-Shirts hatte. Ich kann ehrlich sagen, daß ich ihn niemals etwas so Langweiliges wie ein Oberhemd oder einen Anzug tragen sah. Mir wurde aus guter Quelle gesagt, daß er, sogar wenn er vor dem Deutschen Bundestag eine Aussage machte oder ein Referat hielt, eines seiner Marken-Tiger-T-Shirts trug. Deutsche Politiker und Bundestagsabgeordnete, die alle um seine langjährige Rolle in der tibetischen Freiheitsbewegung und sein ungeheures Wissen in dieser Sache wußten, zuckten niemals mit der Wimper über seine Erscheinung oder behandelten ihn herablassend. Seine Extravaganz fesselte einfach jeden.

Könnte Tsewang-la’s Tiger-Fixierung etwas mit seiner Herkunft zu tun haben? Er wurde am 1. Juli 1949 (Erde-Ochsen Jahr) in der Gegend von Sengge-Ri (Sengge auf den Landkarten) in Lhodrak, Südtibet, in der Nähe der Grenze zu Bhutan geboren, das (zumindest in der Vergangenheit) ein Land dichter Wälder und einer reichen Tierwelt war, wo Leoparden und sogar Tiger herumstreiften und das bis weit nach Osten, bis nach Kongpo Nyingtri und Zayul reichte.

Nach der Volkserhebung von 1959 und dem entscheidenden Vorrücken der chinesischen kommunistischen Truppen in den Distrikt Lhodrak (bei der Verfolgung der zurückweichenden Chushi Gangdruk - 4 Flüsse 6 Berge Widerstandskämpfer) überquerte Tsewang Norbus Familie die Grenze nach Bhutan und ließ sich in Indien nieder.

Tsewang-la wurde in die neue Central School for Tibetans in Mussoorie aufgenommen, wo er sich als fleißiger und hervorragender Schüler erwies. Vielleicht wegen seines Hintergrunds als jemand aus Südtibet gab ihm irgendwer den Spitznamen „Tak-go“ oder „Tiger-Haupt“. Einer seiner Schulfreunde erzählte mir, sein Spitzname sei eigentlich „Tang-go“ oder „Pferde-Kopf“ gewesen. Wie dem auch sei, bemerkenswert ist, daß er 1969 zu der allerersten Partie von exiltibetischen Schülern gehörte, die das Abitur machten - ein sehr stolzer und bahnbrechender Moment für den Dalai Lama und die lobenswerte Initiative der Exilregierung, allen jungen Exiltibetern eine moderne Bildung zu vermitteln. Ich erinnere mich noch an eine idealistische Redensart, die damals von der Beamtenschaft gebraucht wurde, um diese jungen Absolventen zu beschreiben „mahong bhod ki sontsa“ oder „die Samen eines zukünftigen Tibets“. Dieser Ausdruck wurde später verwendet, um die nachfolgenden Generationen von Studenten zu ermahnen, im Hinblick auf ein freies und unabhängiges Tibet emsig zu studieren.

Tsewang Norbu schloß die höhere Schule im April 1969 ab und besuchte dann St. Stephen’s, das führende College der Universität Delhi, wo er seinen B.A. mit Auszeichnung machte. In der Folge freundete sich Tsewang-la mit einem altruistischen deutschen Zahnarzt an, der in den Siebzigern in Dharamshala und Mussoorie herumreiste und die Zähne tibetischer Kinder und anderer Flüchtlinge reparierte. Tsewang-la half diesem Zahnarzt bei seiner Arbeit, er dolmetschte für ihn und stand ihm auch auf andere Weise bei. Dieser Zahnarzt half dann 1973 Tsewang Norbu nach Deutschland zu reisen, um dort seine Studien fortzusetzen.

Wie viele junge Exiltibeter überall pflegten sich Tsewang Norbu und die Handvoll von Tibetern in Deutschland oft zu treffen und zu besprechen, was sie tun könnten, um die Sache Tibets voranzubringen. Doch jene Jahre, als die Intellektuellen und Politiker in Europa von Mao und der Kulturrevolution betört waren, waren noch düstere Zeiten für die tibetische Sache im Westen. Aber nach dem Tod von Mao und der teilweisen Öffnung Chinas und Tibets, und besonders seit den Unabhängigkeits-Demonstrationen in Tibet in den 87er bis 89er Jahren, kam es zu einer dramatischen und willkommenen Wandlung im westlichen Verständnis für die Tragödie Tibets und damit zur Unterstützung für den Freiheitskampf.

Tsewang Norbu 2003

Erfreulicherweise bekam Tsewang Norbu in dieser entscheidenden Phase einen Job beim Bundestag, genauer gesagt im Büro der inzwischen verstorbenen Petra Kelly, Gründungsmitglied und Vorsitzender der Grünen-Partei, einer beharrlichen Tibet-Unterstützerin. Tsewang-la arbeitete mit tibetischen Freiwilligen in Deutschland wie Tawu Lobsang Palden (auch einigen jungen Exiltibetern aus der Schweiz) zusammen, und mit der Unterstützung der Grünen gelang es ihm, die erste internationale Tibet-Anhörung zu organisieren. Da ich über die Ereignisse in Europa während dieser Zeit nicht so gut informiert bin, bitte ich besser informierte Leser, uns ihre Erinnerungen oder Anekdoten in den Kommentaren (https://www.jamyangnorbu.com/blog/2018/08/26/the-first-seed-of-a-future-tibet/) mitzuteilen.

Der Nachruf, den die Tibet Initiative Deutschland am 19. August auf ihrer Website veröffentlichte „Tsewang Norbu – Gründungsmitglied und Beiratsmitglied der Tibet Initiative Deutschland – ist verstorben“ läßt keinen Zweifel an Tsewang-la’s unersetzlicher und führender Rolle beim Erfolg der Tibet-Bewegung in Deutschland in diesem kritischen Jahrzehnt:

„Tsewang ist für uns unersetzlich und war das Herz nicht nur unseres Vereins, sondern der Tibet-Bewegung in Deutschland und darüber hinaus. Sein ganzes Leben hat er Tibet gewidmet. Wie kein anderer hat er all seine Kraft und sein Herzblut in den Freiheitskampf für Tibet gesteckt – auch wenn es schwierig wurde. Er war ein selbstloser Mensch von beispielloser Integrität. Wann immer Tibet ihn brauchte, war er da. Er hat bis zur letzten Minute die Tibet Bewegung unermüdlich vorangetrieben und war ein Licht und Anker für die Exilgemeinschaft. Tsewang war ein Pionier. Er hat dafür gesorgt, daß Tibet Ende der 1980er Jahre überhaupt zum Thema für die deutsche Bundesregierung wurde. Er hat unzählige Meilensteine für die Tibet-Bewegung in Deutschland gesetzt. Ohne Menschen wie ihn würde es uns gar nicht geben.“

Mit der Aushöhlung des Tibet-Kampfes seit dem Ende des letzten Jahrtausends hielt Tsewang Norbu wie viele andere engagierte Rangzen-Kämpfer Ausschau nach anderen Wegen, um die Sache Tibets am Leben zu erhalten. Er führte seine Arbeit bei der Tibet-Initiative weiter, organisierte Proteste und Aktionen in Deutschland, aber er suchte auch andere Wege, um seine Unterstützung auf die weitere Exilgemeinde auszudehnen und sogar auf Tibeter im besetzten Tibet.

Er wählte den Journalismus. Er bot sich als Korrespondent für Radio Free Asia (Tibet-Sektion) an, der alle für Tibet relevanten Ereignisse in Europa abdeckte. Sein Kollege bei RFA Karma Zurkhang erinnert sich an „… die ungeheure Menge von Nachrichten und Berichten über Ereignisse, die Tsewang-la regelmäßig lieferte, ohne zusätzliche Vergütung zu fordern. Wir haben wahrlich einen erfahrenen Selfmade-Journalisten verloren, dessen rauchige Stimme von den regelmäßigen RFA-Hörern sehr vermißt werden wird, und an seine Stelle zu treten, wird, gelinde gesagt, eine Herausforderung sein“.

Seit der Volkserhebung in Tibet von 2008 begann Tsewang Norbu auch Artikel und Gastbeiträge auf Englisch zu schreiben, die bei Rangzen.net erschienen und auch auf meiner eigenen Blog-Seite. Unermüdlich und unverblümt trat er für die tibetische Unabhängigkeit ein, und in einem seiner wesentlichsten Beiträge stellte er eine vollständige und maßgebliche Übersetzung der „Unabhängigkeitserklärung des 13. Dalai Lama“ vor. Als die tibetische Exilregierung die berüchtigte „November-Sonder-Konferenz“ Ende 2008 einberief, schrieb Tsewang-la diesen fesselnden Essay „Setzt Rangzen zurück auf die Agenda - Ein Appell an die Delegierten der November-Sonder-Konferenz“, der in der damals vorherrschenden Ausverkaufsstimmung in Dharamshala natürlich auf taube Ohren stieß.

Diesen Januar weilte er in Washington DC und in New York City, doch irgendwie versäumte ich es, ihn zu treffen. Ich ärgere mich jetzt fürchterlich, daß ich mich nicht mehr bemüht habe, ein Flugticket zu buchen. Jetzt wurde Tsewang-la durch einen tragischen Unfall von uns genommen, und Tibet hat nun einen Rangzen-Kämpfer weniger, der für seine Befreiung kämpft. Und ich habe einen Freund und Gefährten weniger.

Jamyang Norbu