11. August 2000
Department of Information and International Relations,
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Ein Treffen unter Tränen mit einer gefangenen Nachtigall

Ngawang Choephels Mutter besucht ihren Sohn im Gefängnis von Chengdu

Dharamsala, 11.8.2000 (DIIR) - Ngawang Choephel, ein tibetischer Musikwissenschaftler und Stipendiat des Middlebury College, Vermont, wurde 1995 von den Chinesen in Tibet verhaftet, wohin er gereist war, um tibetische Volksmusik und darstellende Künste zu filmen. Er verbüßt gegenwärtig eine Gefängnisstrafe von 18 Jahren. Es folgt die Übersetzung eines aus Kathmandu erhaltenen Berichtes:

Nachdem Ngawang Choephels Mutter Sonam Dekyi und sein Onkel Tsering Wangdu von der chinesischen Botschaft in New Delhi die Erlaubnis zu einem einwöchigen Besuch in Tibet erhalten hatten, flogen sie am 1. August 2000 von Kathmandu ab und kamen am selben Tag auf dem Gongkar Flugplatz bei Lhasa an. Einige chinesische Polizisten kamen an Bord, um ihnen zu sagen, daß sie hier nicht aussteigen dürften. Zwei Tibeter, ein Mann und eine Frau, die sich als Mitarbeiter des Lhasaer Empfangsbüros für im Ausland ansässige Tibeter vorstellten, erklärten, sie seien den Besuchern als Fremdenführer zugeordnet worden. Diese "guides" flogen mit ihnen nach Chengdu. Als sie den Flugplatz Chengdu erreichten, kam ein chinesischer Angestellter und fuhr sie zum Empfangszentrum. Die ganze Fahrt über hielt er ihnen Vorträge über die Vorzüge des "Mutterlandes" und die Übeltaten der "Dalai Clique". Später wurden Sonam Dekyi und Tsering Wangdu zu einem großen Hospital gebracht, das man ihnen als den Ort beschrieb, wo Ngawang medizinische Behandlung erhalten hatte. Am folgenden Tag wurden sie zu einem großen Gefängniskomplex in der Nähe des Bahnhofs Chengdu geführt. Ngawang wurde herausgebracht und durfte die Besucher durch zwei Barrikaden von Maschendraht hindurch sehen. Während die Gefängniswärter zuschauten, konnten der Gefangene und seine Besucher sich eine Stunde lang anblicken und ein paar Worte austauschen. Es war offensichtlich für die Besucher, daß Ngawang nicht frei war, sein Herz auszuschütten. Die Mutter des Gefangenen war untröstlich.

Auch der zweite Besuch im Gefängnis dauerte nur eine Stunde. Die Mutter bat um Erlaubnis, ihrem Sohn die Hände halten zu dürfen, aber die Bitte wurde abgeschlagen. Man erzählte ihr, Ngawang sei trotz seines hartnäckigen Widerstandes nicht gefoltert worden. "Das können Sie Ihren Sohn fragen", hieß es. An Ngawangs Gesichtsausdruck war deutlich zu erkennen, daß er nicht frei war, die Wahrheit zu sagen.

Ngawang sagte seiner Mutter, daß er erst eine Stunde vorher über ihre Ankunft informiert worden sei. Er sei seit etwa einem Monat im Gefängnis von Chengdu und hätte eine Woche in dem Hospital gelegen, das den Besuchern gezeigt wurde.

Ngawangs Mutter und Onkel waren schockiert von seinem gebrechlichen und kränklichen Anblick, der sie sehr traurig stimmte. Die Gefängniswachen hatten dies wahrscheinlich gemerkt, denn beim zweiten Besuch sahen die Besucher, daß Ngawang nun herausgeputzt war: Er war in eine dicke, locker sitzende Jacke gekleidet, war rasiert und frisch frisiert. Aber er schaute immer noch blaß und leidend aus. Der Gefangene sah in den Augen seiner Mutter einen pathetischen Blick.

Ngawang mahnte seine Mutter, nicht mehr auf dem Trottoir von Delhi zu kampieren. "Du solltest statt dessen in einem kleinen Haus wohnen und deine Zeit mit Gebet und spiritueller Praxis verbringen. Und bitte danke all den Leuten, die uns halfen."

Die Besucher verließen Chengdu am 8. August. Vor ihrem Abflug forderten die Behörden sie auf, mehr als 8.000 Yuan für den Flug und die Unterkunft zu zahlen. Ngawangs Mutter antwortete: "Wir hatten geplant, Ngawang in Lhasa zu sehen und keine Ahnung, daß wir hierher nach Chengdu gebracht würden. So viel Geld haben wir nicht mitgebracht. Alles was wir haben, wurde uns von freundlichen Leuten gegeben."

Die "Fremdenführer" von dem Empfangszentrum in Lhasa ließen die Besucher niemals aus den Augen. Diese wurden in zwei verschiedenen Zimmern untergebracht, wobei die Frau das Zimmer mit Ngawangs Mutter, und der Mann das andere mit Ngawangs Onkel teilte. Die Besucher wurden so streng überwacht, daß sie nicht einmal frei miteinander sprechen konnten. Immer wieder wurden sie gefragt, ob die tibetische Regierung sie gesandt und ihre Reisekosten bezahlt hätte.