5. Juni 2002
Department of Information and International Relations (DIIR)

Central Tibetan Administration
Dharamsala, 176 215, H.P. India, e-mail: diir@gov.tibet.net, website: www.tibet.net

Kalon Thubten Lungrik

Eine kurze Biographie des Fünften Dalai Lama

Die Tibeter feiern den 360. Jahrestag der Gründung von Ganden Phodrang

Das tibetische Volk nennt den Fünften Dalai Lama (1617-1682) den "Großen Fünften". Seine Größe ist darin begründet, daß er durch seine brillante Diplomatie ganz Tibet zu einer Nation vereinigte und diese als unumstrittener Herrscher regierte. Der "Große Fünfte" war auch der Begründer der "Ganden Phodrang" genannten Regierung Tibets. Dieses einzigartige Regierungssystem wird von dem Grundsatz des chosi-sungdril oder des harmonischen Ineinandergreifens von Religion und Politik bestimmt.

Unter der Führung des fünften Dalai Lamas verfolgte Tibet eine energische Außenpolitik, bei der Reisende aus fremden Ländern willkommen geheißen wurden. Das cho-yon oder das "Lehrer-Schüler" Verhältnis, das bisher die wichtigsten auswärtigen Beziehungen Tibets geprägt hatte, wurde unter seiner Herrschaft zu neuem Leben erweckt. Als Gegenleistung für die spirituelle Führung des Dalai Lamas stellte der "Schüler" diesem seine militärischen Dienste zur Verfügung. Dieses cho-yon (Priester-Gabenherr) System war für die Beziehungen Tibets zu China bis 1911 bestimmend, als die Manchu Dynastie von den nationalchinesischen Kräften entmachtet wurde. Die tibetische Außenpolitik unter dem fünften Dalai Lama ist dadurch gekennzeichnet, daß er einen ständigen Vertreter in die Mongolei entsandte und seine Beziehungen zu den verschiedenen mongolischen Stämmen festigte, die in Zentralasien lebten und dort ihre Verbände bewegten. Andererseits schickten die Herrscher von Ladakh, der muslimische Fürst Bengalens, Shah Shuja, und die Malla Könige von Patan, Kathmandu und Bhatgaon in Nepal ihre Gesandten an den Hof des fünften Dalai Lama nach Lhasa. Die Könige von Mustang und Jumla, die damals den gesamten Westen des modernen Nepals unter sich aufteilten, suchten Lhasa persönlich auf. Ebenso der neue Choegyal von Sikkim. Der fünfte Dalai Lama erlaubte der tibetischsprachigen Gemeinschaft der Newars von Nepal, in Tibet Handel zu treiben. Ebenso gestattete er den muslimischen Händlern aus Ladakh, in Lhasa eine Moschee zu bauen. Im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts gründete der portugiesische Jesuitenpater Antonio de Andrada gemeinsam mit Manuel Marques eine christliche Mission in Westtibet. Am 8. Oktober 1661 kamen der deutsche Jesuit Johannes Grueber und sein belgischer Begleiter Albert d'Orville nach Lhasa und lebten dort zur Blütezeit der Regierung des fünften Dalai Lamas. Viele Sanskrit-Gelehrte aus Varanasi und Kurukshetra besuchten Lhasa, wo sie sich lange aufhielten und tibetische Gelehrte in Sanskrit unterrichteten.

Der Aufstieg des fünften Dalai Lamas am politischen Horizont Tibets fiel mit einer turbulenten Zeit innerhalb und außerhalb Tibets zusammen. Innenpolitisch war Tibet infolge der Abwesenheit einer zentralen Autorität zwischen U und Tsang zerrissen, deren Machtzentren jeweils in Lhasa und Shigatse lagen.

Doch auch außerhalb Tibets braute sich im 17. Jahrhundert etwas zusammen, was ungeheure Veränderungen in ganz Asien zur Folge hatte. Die Reste von Dschingis Khans Reich, plündernde Horden mongolischer Reiter, machten die Steppe unsicher und stellten für China noch immer eine Bedrohung, sowie einen Machtfaktor in der tibetischen Politik dar. In China war eine neue Macht aufgetaucht, die Manchus, die später ihren Einfluß zum Schaden Tibets geltend machen würden. Das zaristische Rußland hatte mit seiner großen Expansion nach Osten begonnen, was in der Folge zu seiner Konfrontation mit dem britischen Imperium in dem sogenannten Großen Spiel, dem Wettkampf um die Einflußnahme in den Hochregionen Asiens, führen sollte. Im Süden war die Ost-Indische Gesellschaft im Begriff, auf dem indischen Subkontinent Fuß zu fassen. Diese Gesellschaft sollte später in ganz Indien dominieren und es zum funkelndsten Juwel in der Krone des britischen Imperiums machen.

Der fünfte Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso, wurde in dem südlich von Lhasa gelegenen Chongye, der Wiege der tibetischen Zivilisation, geboren. Als Sonam Choephel, der Haupt-Vertraute des Vierten Dalai Lama, von den außergewöhnlichen Fähigkeiten dieses Knaben aus Chongye hörte, suchte er ihn auf und zeigte ihm Gegenstände aus dem Besitz des vorigen Dalai Lamas. Das Kind beanspruchte diese als seine eigenen. Sonam Choephel behielt seine Entdeckung wegen der turbulenten politischen Lage als Geheimnis für sich. Als die Dinge sich etwas beruhigt hatten, wurde der Knabe in das Drepung Kloster bei Lhasa gebracht, wo er vom Panchen Lama zum Mönch ordiniert wurde.

1642 hatte Gushri Khan ganz Tibet unterworfen und bot es dem fünften Dalai Lama an. In eben diesem Jahr wurde dieser mit allen Ehren nach Shigatse geleitet und dort als das geistliche und weltliche Oberhaupt Tibets inthronisiert. Sein Herrschaftsbereich erstreckte sich von den Grenzen Ladakhs im Westen bis nach Dartsedo, der traditionellen Grenze Tibets zu China im Osten, ein Gebiet, das in etwa dem ehemaligen Reich der Könige Tibets entsprach. Einen Monat später kehrte der fünfte Dalai Lama nach Lhasa und in sein Kloster Drepung zurück. "Dort verkündete er, daß Lhasa fortan die Hauptstadt Tibets sein und die Regierung Ganden Phodrang genannt werden sollte, was der Name seines Palastes in Drepung war. Er erließ Gesetze zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, ernannte Gouverneure für die einzelnen Distrikte und suchte sich geeignete Minister für die Bildung einer neuen Regierung aus" (Shakabpa: Tibet: A Political History).

Später ließ der fünfte Dalai Lama eine Volkszählung in Tibet durchführen, um das Steuersystem zu verbessern.

1659 entsandte der Dalai Lama seine Vertreter in die Mongolei, um verschiedene mongolische Stammesfürsten zur Einigkeit zu ermahnen, anstatt sich ständig zu bekriegen. Der Manchu Kaiser Kangxi ersuchte den Dalai Lama um den Beistand der mongolischen und tibetischen Truppen, um einen ihm drohenden Aufstand niederschlagen zu können. Der Dalai Lama verweigerte jedoch die Bitte des Kaisers mit der Begründung, das heiße Klima in China sei der Kampffähigkeit der mongolischen und tibetischen Truppen abträglich. Etwa um dieselbe Zeit empfing der Dalai Lama eine Abordnung des abgefallenen Ministers (Anm. d. Übers.: Damit ist wohl Won San Kuei gemeint, ein Rebellengeneral, der sich in Yunnan und Süd-Sichuan ein eigenes Königreich errichten wollte und Tibet um Unterstützung ersucht hatte), welcher seine Hilfe gegen den Manchu Kaiser erbeten hatte. Der Dalai Lama gab dieselbe Antwort, aber gleichzeitig schickte er Vertreter zu den Mongolen, um sicherzustellen, daß diese im Falle des Ausbruchs von Unruhen in China ihre Einigkeit bewahren würden.

Zuvor hatte der fünfte Dalai Lama auf die wiederholten Bitten des Kaisers Shunzhi, des Vaters von Kangxi, bereits Peking besucht. Er wurde dort mit großen Ehren und als dem Manchu Kaiser ebenbürtig empfangen. Was auch immer offizielle chinesische Historiker später in diesen Besuch hineingelesen haben mögen, die Begegnung war eindeutig eine unter Gleichen. Indem er das Protokoll seiner neuen Position beiseite schob, war der Kaiser bereit, sich an die Grenzen seines Herrschaftsbereichs zu begeben, um das tibetische Oberhaupt zu empfangen. Der Manchu Kaiser empfand nämlich tiefen Respekt und Hochachtung für den Dalai Lama, den er als einen großen religiösen Lehrer verehrte. Um sich als ein echter Schüler zu erweisen, überging er sogar das Protokoll und reiste ihm entgegen, um den Dalai Lama an der Grenze seines weit ausgedehnten Reiches zu empfangen.

1645 legte der Dalai Lama den Grundstein für die Errichtung des Potala-Palastes auf den Ruinen eines von König Songtsen Gampo im 7. Jahrhundert erbauten Palastes. Der Potala, Ausdruck eines neuen Geistes der tibetischen Architektur auf seinem Höchststand, dominierte Lhasa und wurde zum Symbol der Stadt und ganz Tibets. Jahrhunderte später, als die Briten 1904 in Tibet eindrangen, schrieb der Regiments-Oberfeldwebel Percy Coath über den Potala in sein Tagebuch: "Rein von der Massivität und großartigen Kühnheit der Konstruktion her gesehen, konnte der Lamaismus keine großartigere Architektur hervorbringen, als er in diesem riesigen Tempelpalast des Großlamas geschaffen hatte".

Der fünfte Dalai Lama leitete für Tibet ein goldenes Zeitalter ein. Er schenkte seinem Land Frieden und Wohlstand und gab der Institution des Dalai Lama ein festes Gefüge. Vor allem wurde Tibet während seiner Regierungszeit als das Zentrum buddhistischer Gelehrsamkeit bekannt. Die wachsten und edelsten Geister der ganzen Himalaya Region, von Ladakh im Westen bis zum heutigen Arunachal Pradesh im Osten, von der Mongolei bis hin zu den Enklaven des tibetischen Buddhismus in Rußland, überwanden riesige Entfernungen, um zu den großen Klöstern Tibets zu pilgern und dort zu studieren.

Wegen der großen Gelehrsamkeit des fünften Dalai Lamas und seiner überragenden Leistungen für die Entwicklung Tibets schreibt das tibetische Volk ihm, seinen Vorläufern und seinen Nachfolgern, die Weisheit Buddhas zu, die Glorie der tibetischen Könige von ehemals und das Mitgefühl von Avalokitesvara, dem Beschützer des Schneelandes.

Kalon Thubten Lungrik
Minister für Erziehung und Minister für Religion und Kultur
Vorsitzender des Organisationskomitees für den 360. Jahrestag der Gründung der "Zentralen Tibetischen Regierung"
Dharamsala - 176 215, H.P., Indien
5. Juni 2002

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