May 2005
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Die Prostitution in Tibet nimmt erschreckend zu - vom Entwicklungsboom nicht zu trennen?

Aus "Tibetan Bulletin" May-June 2005

Mit Hilfe des Entwicklungsprogramms für den Westen (Western Development Strategy – WDS), das 2000 gestartet wurde, beabsichtigt Peking, das Problem der zunehmenden wirtschaftlichen Ungleichheit zwischen den reichen Küstenprovinzen im Osten und dem armen Hinterland im Westen zu lösen, das hauptsächlich von Minderheiten bewohnt wird und zu dem das gesamte tibetische Siedlungsgebiet gehört.

Viele chinesische Volkswirtschaftler stellten in Frage, ob eine Strategie, die sich weiterhin ausschließlich auf die Entwicklung der Infrastruktur im urbanen Tibet richtet, wirklich sinnvoll sei. Sie argumentieren, daß allein infrastrukturelle Erschließung noch kein Wirtschaftswachstum garantiere, besonders wenn dabei die eigentlichen und dringenden Bedürfnisse der tibetischen Landbevölkerung übergangen werden.

China behauptet, die im Rahmen der WDS durchgeführte Bautätigkeit würde den Tibetern insofern Nutzen bringen, als sie Arbeitsplätze und Beschäftigungsmöglichkeiten schaffe. In Wirklichkeit werden bei den großen Projekten jedoch in erster Linie chinesische Wanderarbeiter eingestellt, und zwar weil den Tibetern angeblich die notwendige Befähigung und Ausbildung fehle – und das nach über 50 Jahren chinesischer Bemühungen um die Entwicklung Tibets. Außerdem blieb die Entwicklung der Infrastruktur auf die Städte konzentriert, während die Mehrheit der Tibeter auf dem Lande wohnt. Dem Zensus von 2000 zufolge leben 85% der Bevölkerung der TAR immer noch in ländlichen Gebieten.


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Explosionsartige Verbreitung der Prostitution in Tibet

Prostitution als einen Industriezweig gab es in Tibet praktisch nicht vor der chinesischen Besetzung des Landes. Heute ist sie ein weitverbreitetes Phänomen, das sich – mit Alkoholismus, Verbrechen, Arbeitslosigkeit, ansteigenden Scheidungsquoten und Fällen von häuslicher Gewalt einhergehend – im Gefolge der von der chinesischen Regierung seit den achtziger Jahren betriebenen wirtschaftlichen Reformpolitik immer weiter ausgebreitet hat und nun zu einem regelrechten Bestandteil des informellen Wirtschaftslebens im städtischen Tibet geworden ist.

Trotz einer Reihe von Gesetzen und Bestimmungen, die erlassen wurden, um sie zu unterbinden, floriert die Prostitution in Tibet wie nie zuvor. Karaoke Bars, Spielhallen und Discos, die alle durch die Politik der Wirtschaftsreform legalisiert wurden, bieten den besten Nährboden für dieses boomende Gewerbe.

1990 hat sich besonders in Lhasa und Tsethang die Prostitution in großem Maßstab breitgemacht. Eine oberflächliche Schätzung der Bordelle kam 1998 auf 658 in den 18 Hauptstraßen Lhasas und in Tsethang auf 60 solcher Etablissements.

Der Hauptgrund, warum das Geschäft mit dem Sex in Tibet plötzlich derartige Ausmaße angenommen hat, ist der gewaltige Bevölkerungszustrom aus China. Die rapide Urbanisierung, gekennzeichnet von massiver Bautätigkeit in den Städten, zieht eine große Zahl von hauptsächlich männlichen Wanderarbeitern an, die zu der bereits erheblichen Population von chinesischen Soldaten in Tibet noch hinzukommen.

Obwohl die Mehrheit der Prostituierten in Tibet Chinesinnen sind, nimmt auch die Zahl von tibetischen Frauen, die von diesem boomenden Gewerbe angelockt werden, beängstigend zu. Wie unlängst eingetroffene Flüchtlinge berichteten, bleibt das Geschäft mit dem Sex heutzutage nicht mehr allein auf die Städte beschränkt. Es grassiert sogar in entlegenen Regionen wie in der Präfektur Ngari.

Tibetische junge Mädchen, manche von ihnen sind erst 13 oder 14 Jahre alt, sehen sich wegen der weitverbreiteten heftigen Armut auf dem Lande zu einem solchen Schritt genötigt. Viele gehen auf der Suche nach einem besseren Leben in die Städte, aber wegen ihrer mangelnden Bildung und schlechten Chinesischkenntnisse finden sie keine annehmbare Arbeit und müssen sich auf diese Weise durchschlagen. Die einzige Möglichkeit, die ihnen offensteht, ist das Vergnügungsgeschäft – Karaoke Bars, Spielhallen und Discos –, von wo aus sie schließlich in die Welt der Prostitution abgleiten.

Einige tibetische Mädchen lassen sich auch von dem bequemen Gelderwerb verlocken. Einer Informationsbroschüre von TIN zufolge (Social Evils: Prostitution and Pornography in Lhasa) "geht eine kleine, aber wachsende Zahl von jungen Frauen mit der Absicht, als Prostituierte zu arbeiten, in die Städte. Meistens tun sie dies mit dem stillschweigenden Einverständnis ihrer Familien. Manche sind schon verheiratet und wollen eine gewisse Geldsumme für einen ganz bestimmten Zweck verdienen, etwa um ein Haus zu bauen oder das notwendige Kapital für einen eigenen Laden zu erwirtschaften. Das ist vor allem in sehr armen Regionen wie Nagchu der Fall. Bei ihrer Rückkehr nach Hause gewinnen sie in ihrer Gemeinschaft gewaltig an Ansehen, weil sie zur Verbesserung ihres Lebensstandards beitrugen, aber gleichzeitig müssen sie auf der Hut sein, damit die Leute im Dorf nicht ihre Vergangenheit als Sexarbeiterinnen in der Stadt aufdecken".

Obwohl es eine Reihe von Gesetzen und Bestimmungen zur Eindämmung der Prostitution gibt, ergreifen die chinesischen Behörden keine wirksamen Maßnahmen, um das illegale Geschäft mit dem Sex in den Griff zu kriegen. Es ist kein Geheimnis, daß die Zunahme der Bars und Karaokebars zu einer Reihe von sozialen Problemen führt, darunter auch zur Prostitution; dennoch machen die Behörden, abgesehen von gelegentlichen Razzien in bestimmten Bordellen kaum Anstalten, diese Einrichtungen regelmäßig zu kontrollieren.

Gefahren der Immunschwächekrankheit AIDS

Über 8 Mio. Menschen in Asien sind HIV-positiv, womit dieser Erdteil nach Afrika der am meisten von AIDS betroffene ist. Nach einem von der WHO veröffentlichten Bericht starben 2003 in der Asien-Pazifik-Region über eine halbe Million Menschen an AIDS – ein Toter pro Minute.

Offiziellen Angaben zufolge liegt die Zahl der HIV-Infizierten in China um die 840.000. Die Dunkelziffer könnte jedoch viel höher sein, was sogar von offizieller Seite nicht bestritten wird. UNAIDS (Gemeinsames Programm der Vereinten Nationen für HIV/AIDS) warnte, daß sich in China bis 2010 zehn Millionen Menschen mit dem Virus infiziert haben könnten, falls keine wirksamen Maßnahmen zu seiner Bekämpfung ergriffen werden.

Obwohl es in Tibet keine Statistiken über das Vorkommen von AIDS gibt, kann man ohne weiteres annehmen, daß AIDS wegen des großen Zustroms chinesischer Migranten bereits ziemlich weit verbreitet ist. Das boomende Sex-Geschäft und die steigende Zahl von Prostituierten geben wegen der sich abzeichnenden AIDS-Gefahr Anlaß zu großer Sorge. Die Lage hat sich dadurch weiter verschlimmert, daß unter der Bevölkerung allgemein ein erheblicher Mangel an Wissen und Aufklärung über AIDS besteht. Nach einer von der Futures Group Europe und der Horizon Research Group in Peking durchgeführten Umfrage wissen überhaupt nur 8,7% der Chinesen, wie HIV übertragen wird, und 25 % der Landbewohner haben noch nie etwas von dem Virus gehört.

Das Macfarlane Burnet Centre in Melbourne bildete in Zusammenarbeit mit der australischen Regierung eine AIDS-Arbeitsgruppe, die das AIDS-Risiko in Tibet einschätzen sollte. Diese Task-Force berichtete später, daß viele der in Tibet ansässigen Chinesen, die sich kommerziellen Sex leisten, aus Gegenden in China stammen, in denen AIDS bereits verbreitet ist. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß es besonders in Lhasa eine schnell wachsende und wild wuchernde Sex-Industrie gibt. Die Öffentlichkeit wird von den Behörden nicht aufgeklärt, die Erfassung und Überwachung der sexuell übertragbaren Krankheiten ist mangelhaft, es sind zu wenig Kondome verfügbar. "Falls nicht bald angemessene Maßnahmen ergriffen werden, müssen wir befürchten, daß es in Tibet zu einem ähnlichen Ausbruch von AIDS kommt wie in anderen Entwicklungsländern", schrieb Dr. Alison Morgan, Sprecherin der Task-Force, in ihrem Bericht.

Mit Hilfe ausländischer NGOs werden jetzt einige Aufklärungsprogramme über HIV und AIDS in Tibet durchgeführt. In der von TIN veröffentlichten Broschüre Delivery and Deficiency: Health and Health care in Tibet, heißt es: "2000 fand die erste AIDS-Aufklärungswoche in Lhasa statt. An Prostituierte wurden unentgeltlich Kondome ausgegeben und es wurde Aufklärung über Safer Sex, sowohl auf Tibetisch als auch auf Chinesisch, mit Pamphleten, auf Postern und Spruchbändern verbreitet. Wie westliche Mediziner, die in der Region tätig sind, berichten, haben sich die Behörden in der TAR verpflichtet, die Bevölkerung über AIDS zu informieren, Richtlinien für den Umgang mit Blut und Blutprodukten und infektiösen Krankheiten in den Kliniken aufzustellen und mehr Kondome zur Verfügung zu stellen. Sei es, um den Staatshaushalt nicht zu sehr zu belasten, sei es aus Mangel an erfahrenen Fachkräften – in der Praxis scheint jedoch noch kaum etwas in dieser Richtung getan worden sein.

Der Faktor Eisenbahn

Nach einer Meldung von Reuters vom 13. April 2005 plant China die kontroverse Eisenbahnstrecke von Golmud nach Lhasa bis Ende des Jahres fertigzustellen. Die chinesische Regierung behauptet, die Eisenbahn würde zu der Entwicklung der Region beitragen und den Lebensstandard anheben, doch Kritiker befürchten, daß sie nicht nur eine Gefahr für das Fortbestehen der tibetischen Identität darstellt, sondern auch die Ausbreitung der Prostitution beschleunigt.

In einem von der US Botschaft in Peking erarbeiteten Bericht (Environmental Protection along the Qinghai-Tibet Railway, April 2003) heißt es ebenfalls, daß der Bau der Eisenbahn sich "in Bezug auf die Ausbreitung von HIV/AIDS in der TAR sehr negativ auswirken könnte, und zwar wegen der florierenden Sex-Industrie in Golmud, der zahllosen Arbeiter aus ganz China und der Nähe der Linie zu einer illegalen Drogenhandelsroute. Die Gefahr besteht, daß HIV von Amdo aus auf die Arbeiter an dem Eisenbahn-Projekt übertragen wird, und je weiter die Schienen südwärts vorangetrieben werden, desto mehr wird die Krankheit auch auf die betreffenden Gebiete der TAR übergreifen", heißt es weiter in dem Report.

Schlussbemerkung

Die von China aufgestellte Behauptung, das WDS würde den Tibetern nutzen, ist hoch fragwürdig. Bislang sehen die zentralen Planer in China nicht ein, daß dieses auf chinesischen Erfahrungen basierende Modell einer intensiven Entwicklung "von oben nach unten" in Tibet ein Fehlschlag war. Die stark zunehmende Prostitution ist – obwohl eine nicht beabsichtigte Folgeerscheinung – das Ergebnis von Chinas fehlgeleiteter wirtschaftlicher Entwicklungspolitik, der Vernachlässigung des ländlichen Sektors (wo der überwiegende Teil der Bevölkerung tibetische Bauern und Nomaden sind), sowie des unkontrollierten Anheuerns chinesischer Wanderarbeiter trotz des riesigen saisonalen Überangebots an Arbeitskräften im ländlichen Tibet.

Ein Ausbruch von HIV/AIDS in Tibet, wo die medizinische Grundversorgung ohnehin sehr dürftig und die Armutsrate sehr hoch ist, hätte eine verheerende Auswirkung auf die Gesellschaft. Es ist höchste Zeit, daß die Behörden in Tibet das Problem der Prostitution in den Griff bekommen und unverzüglich Maßnahmen gegen die Bedrohung durch HIV/AIDS ergreifen. Eine Einschränkung der Wanderarbeit durch die Provinzbehörden, was nach dem Gesetz über die Regionale Autonomie durchaus möglich ist, wäre ein geeigneter Schritt, um den Bevölkerungsdruck zu mindern und damit das Wuchern der Sex-Industrie einzudämmen. Um die wachsende Zahl an arbeitslosen jungen Tibetern aufzufangen, sind außerdem Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen erforderlich: Den Arbeitslosen auf dem Lande sollten alternative Jobs zum Erwerb ihres Lebensunterhalts geboten werden, den Tibetern sollte eine Fach- und Berufsausbildung ermöglicht werden und es sollte für alternative Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft gesorgt werden.

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