Dezember 2002
Amnesty International
AI Index: ASA 17/058/2002
Verbindlich ist nur das englische Original, Übersetzung von amnesty international nicht autorisiert

Appell für die Freilassung der tibetischen Gewissensgefangenen Anu, die ohne Anklage oder Gerichtsprozess inhaftiert wurde

Die 47-jährige Anu, die körperlich behindert ist und nur ein Bein hat, wurde Anfang März 2001 aus ihrer Wohnung im Bezirk Lubug der Stadt Lhasa heraus verhaftet. Man nimmt an, daß sie acht Monate lang in der Haftanstalt Sitru festgehalten wurde, ehe sie in das 14 km von Lhasa entfernte Lager Trisam zur "Umerziehung-durch-Arbeit" verlegt wurde, wo sie sich derzeit befindet. Sie wurde auf administrativen Wege zu drei Jahren "Umerziehung durch Arbeit" verurteilt. amnesty international fordert ihre sofortige und bedingungslose Freilassung.

Fallbeschreibung

Anu wurde im März 2001 bei Nacht von Polizisten des Büros für Öffentliche Sicherheit aus ihrer Wohnung geholt. Wahrscheinlich kam sie zuerst nach Sitru, dem Polizei-Haftzentrum auf Provinz-Ebene in Lhasa. Die genauen Gründe für Anus Festnahme sind unklar, doch unbestätigten Berichten zufolge wurde ihr vorgeworfen, "separatistisches" Material von der tibetischen Exilgemeinschaft in Indien zu besitzen, das kopiert und in Lhasa verbreitet wurde. Im Oktober oder November 2001 wurde gegen sie dann auf administrativem Wege drei Jahre "Umerziehung durch Arbeit" in dem Lager Trisam verhängt.

Es heißt, Anu müsse trotz ihrer körperlichen Behinderung in Trisam für viele Stunden arbeiten. Es bestehen ernsthafte Sorgen um ihre Gesundheit, denn sie hat nur ein Bein.

amnesty international fürchtet, daß Anu nun schon 21 Monate lang ohne Anklageerhebung oder Prozeß inhaftiert ist und fordert, daß sie sofort und bedingungslos entlassen wird. Bis dahin sollten die chinesischen Behörden ihre persönliche Sicherheit umgehend gewährleisten und ihr Zugang zu ihren Angehörigen und zu ärztlicher Versorgung verschaffen.

Hintergrundinformation

Anu war 13 Jahre alt, als sie in Lhasa auf ihrem Weg zur Schule von einem chinesischen Militärfahrzeug angefahren wurde. Ihr rechtes Bein mußte amputiert werden, und seitdem bewegt sie sich mit Hilfe einer Holzkrücke. Nach diesem Unfall konnte sie nicht mehr zur Schule gehen, und ihr Vater unterrichtete sie im traditionellen tibetischen Schneiderhandwerk. Sie arbeitete fortan als Schneiderin bei sich zu Hause in Lubug, einem Stadtbezirk von Lhasa. Viele Jahre lang wohnte sie ganz alleine und fertigte tibetische Kleider an. Für ihr schneiderisches Können war sie überall in Lhasa bekannt. Ebenso war sie geschätzt wegen ihres mitfühlenden Wesens und ihrer Unterstützung der örtlichen Gemeinschaft. Wie es heißt, gab sie im Sinne ihrer religiösen Praxis den größten Teil ihres geringen Einkommens für die Obdachlosen, Kranken und ehemaligen politischen Gefangenen aus.

Wie amnesty international erfuhr, wurde Anu auch in der Anstalt Trisam mit Schneiderarbeiten beauftragt. So näht sie Vorhänge und Gefangenenuniformen und flickt Kleider. Ebenso wie die anderen Gefangenen muß sie rund acht Stunden pro Tag arbeiten. Es heißt, Anu leide an Migräneanfällen, besonders wenn sie müde oder überarbeitet ist. amnesty international fürchtet, daß die Anu aufgebürdete Arbeitslast eine Verletzung der UN-Mindeststandards für die Behandlung von Strafgefangenen (Regel 71(1,2)) darstellen könnte:

"Gefängnisarbeit darf die Häftlinge nicht ungebührend überfordern."

"Wird von verurteilten Gefangenen Arbeit gefordert, so muß diese ihrer physischen und mentalen Eignung, wie sie von dem Gefängnisarzt bescheinigt wurde, gemäß sein."

Außerdem wurde amnesty international bekannt, daß den Angehörigen von Anu verwehrt wurde, sie zu besuchen. Auch dieser Umstand verletzt die UN-Mindeststandards (Regel 37):

"Gefangenen muß unter der notwendigen Überwachung erlaubt werden, mit ihren Angehörigen und Freunden von gutem Leumund in regelmäßigen Abständen entweder brieflich oder durch Besuche in Verbindung zu treten."

Umerziehung-durch-Arbeit

"Umerziehung durch Arbeit" ist eine Form der Administrativhaft, bei der Personen ohne Anklageerhebung oder Prozeß für Zeiträume zwischen einem und vier Jahren festgehalten werden. Sie kommt bei Personen zur Anwendung, die eines Vergehens verdächtigt werden, das zu geringfügig ist, um strafrechtlich verfolgt zu werden. Die Haft wird von lokalen Verwaltungsausschüssen, denen gewöhnlich Polizeioffiziere vorstehen, verhängt. Im Laufe der Jahre wurden viele als "anti-soziale Elemente" gebrandmarkte Leute und politische Dissidenten in ein Lager zur "Umerziehung durch Arbeit" gesteckt.

Das Trisam Lager zur Umerziehung-durch-Arbeit

Diese Anstalt (offiziell: "Zentrum der Autonomen Region Tibet zur Umerziehung durch Arbeit") befindet sich im Kreis Toelung Dechen und ist etwa 14 km vom Stadtkern von Lhasa entfernt. Sie wurde im Februar 1992 in Betrieb genommen, und man weiß von etwa 160 politischen Gefangenen, die seitdem dort festgehalten wurden. Laut Informationen des Tibet Information Networks (TIN) sollten alle politischen Gefangenen, die zu dem Zeitpunkt, als Anu nach Trisam kam, dort einsaßen, bis April 2002 entlassen werden (Siehe: Tibet Information Network, "In the Interest of the State: Hostile Elements 3 - Political Imprisonment in Tibet 1987-2001", S. 43). In diesem Falle wäre Anu die einzige bekannte politische Gefangene, die gegenwärtig in Trisam festgehalten wird. Dies ist insofern bedeutsam, als es dann keine politischen Mitgefangenen gäbe, die ihr beistehen könnten.

Man nimmt an, daß Anu in der Einheit 3 ist, die für weibliche kriminelle und politische Gefangene vorgesehen ist. Männliche politische Gefangene kommen in die Einheit 1 und männliche kriminelle in die Einheit 2.

Folter und Tod in der Gefangenschaft

Man weiß von vier Häftlingen, die als Folge von Mißhandlungen im Lager Trisam zur "Umerziehung durch Arbeit" gestorben sind, drei davon kurz nach ihrer Entlassung und einer in der Haft. Das jüngste Opfer ist Sherab Ngawang, die drei Jahre in Trisam zu verbüßen hatte, wo sie oft geschlagen worden sein soll, manchmal auch mit elektrischen Schlagstöcken. Sie starb am 17. April 1995 mit nur fünfzehn Jahren. Berichte über ihre Bestattung besagen, daß Magen und Nieren schwer geschädigt waren (Siehe: "Prisons and Detention Centres, Gu Chu Sum" (http://www.guchusum.org). Später, am 6. Mai 1998, wurde der 22-jährige Yeshe Samten aus dem Kloster Ganden nach zwei Jahren Haft aus der Anstalt Trisam entlassen. Sechs Tage später starb er zu Hause, vermutlich an den Folgen der ihm im Gefängnis durch schwere Schläge und andere Mißhandlungen zugefügten Verletzungen. Bei seiner Entlassung waren zwei seiner Rippen gebrochen, und er konnte nur an Krücken gehen (Siehe: Tibet Information Network (TIN), "Monk 'dedicated to spritual practicse' dies after Torture", 27. Juli 1998).

Haftbedingungen

Berichte von politischen Gefangenen, die früher in Trisam einsaßen, lassen darauf schließen, daß die Häftlinge dort in miserablen, unhygienischen Verhältnissen leben. Essen und Kleidung sind Berichten zufolge unzulänglich und von schlechter Qualität. Sie müssen viele Stunden am Tag unter harten Bedingungen Arbeit leisten, gewöhnlich in der Gemüsezucht (so müssen sie die Felder mit menschlichen Exkrementen düngen, den Boden umgraben und Setzlinge pflanzen) und auf Baustellen (wo sie schwere Steinblöcke brechen und Ziegel tragen und andere Bautätigkeiten ausführen müssen). Die Häftlinge arbeiten über acht Stunden am Tag und haben etwa einmal alle zwei Wochen einen freien Tag. Die Arbeit ist sehr anstrengend, und Berichten zufolge leiden die Häftlinge oft an Erschöpfung. Im Winter müssen sie politischen "Umerziehungsunterricht" besuchen, der zwei Monate lang dauert. Auch die medizinische Versorgung soll unzulänglich sein und nur mit Verspätung gewährt werden.

Empfehlungen

amnesty international ist darüber besorgt, daß Anu 21 Monate lang ohne Anklage oder Prozeß festgehalten wird und fordert ihre sofortige und bedingungslose Entlassung. Die Organisation ist beunruhigt über den körperlichen Zustand Anus während der Haft. In den tibetischen Haftanstalten wird keinerlei Vorsorge für behinderte Personen getroffen oder Rücksicht auf sie genommen. Die lange Arbeitszeit, zu der sie gezwungen wird, könnte sie überfordern und ihrer Gesundheit schaden. Im Widerspruch zu internationalen Menschenrechtsstandards wird Anu auch kein Kontakt mit ihren Angehörigen erlaubt.

Stichpunkte für Briefe

Bitte senden Sie Telegramme/Telexe/Luftpostbriefe auf Englisch, Chinesisch oder Deutsch, in denen Sie

  • Ihre Sorge ausdrücken, daß Anu ohne Anklage oder Prozeß inhaftiert wurde, und ihre sofortige und bedingungslose Freilassung fordern
  • (Expressing your concern that Anu has been detained without charge or trial and calling for her immediate and unconditional release);
  • verlangen, daß die chinesischen Behörden umgehend die persönliche Sicherheit Anus gewährleisten und ihr Zugang zu ihren Familienangehörigen verschaffen, solange sie inhaftiert bleibt
  • (Urging that in the meantime the Chinese authorities provide immediate guarantees for her safety and ensure that she has full access to her family);
  • verlangen, daß sie in der Haft gemäß internationaler Menschenrechtsstandards über die Behandlung von Gefangenen medizinisch versorgt wird
  • (Urging that she is given access to medical treatment while detained in line with international human rights standards on the treatment of prisoners);
  • fordern, daß sie in der Haftanstalt nicht gezwungen wird, zu viele Stunden zu arbeiten oder eine Arbeit zu leisten, die ihrer Gesundheit abträglich ist, wie es in den UN Mindeststandards für die Behandlung von Strafgefangenen niedergelegt ist
  • (Urging that while she is detained she is not forced to work for excessive hours or in a way that may affect her health, as stated in the UN Standard of Minimum Rules on the Treatment of Prisoners);
  • die Behörden auffordern, eine umfassende und unabhängige Untersuchung aller Berichte über Folter oder Mißhandlung in der Anstalt Trisam zur "Umerziehung durch Arbeit" vorzunehmen und sicherzustellen, daß die verantwortlichen Personen vor Gericht gestellt werden
  • (Calling on the authorities to conduct a full and impartial investigation into all allegations of torture or ill treatment at the Trisam Re-education through Labour Centre and ensure that anyone found responsible be brought to justice).

Appelle an:

Governor of Trisam Re-education-through-Labour Centre
Jianyuzhang (Governor)
Xizang Zizhiqu Laojiaosuo
(Tibet Autonomous Region Re-education-through-Labour Centre)
Duilong Deqing Xian
Lasa-shi
Xizhang Zizhiqu
People's Republic of China
Telegram: Governor, Trisam Labour Re-education Centre, Lhasa, Tibet, China
Salutation: Dear Governor

Chairman of the Tibet Autonomous Regional People's Government
Legchog Zhuren
Xizang Zizhiqu Renmin Zhengfu
1 Kang'angdonglu
Lasashi 850000,
Xizang Zizhiqu
People's Republic of China
Telexes: 68014 FAOLT CN or 68007 PGVMT CN
Salutation: Dear Chairman
Telegram: Chairman, Regional People's Government, Lasa, Xizang Zizhiqu, China
Salutation: Dear Chairman

Minister of Justice
Zhang Fusen
Sifaju (Ministry of Justice)
10 Chaoyangmen Nandajie
Chaoyangqu
Beijingshi 100020
People's Republic of China
Telegram: Justice Minister, Beijing, China
Fax: +86 10 65 292345
Salutation: Dear Minister

Kopien an:
Chinesische Botschaft
S. E. Herrn Ma Canrong
Kanzlei der Botschaft der Volksrepublik China
Märkisches Ufer 54
10179 Berlin
Fax: 030-2758 8221
mailto:botschaft.china@debitel.net