5. Januar 2001

TIBET INFORMATION NETWORK

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Gespannte Lage in Kloster Tsurphu ein Jahr nach der Flucht des Karmapa

Ein Jahr nach der Flucht des 17. Karmapa nach Indien bleibt die Lage in seinem Heimatkloster in Tibet angespannt mit einem ständigen Polizeiaufgebot und vermehrten Einschränkungen für die Mönche, welche sie anscheinend davon abhalten sollen, ihrem geistigen Lehrer ins Exil zu folgen. Neue Mönche werden in Tsurphu nicht mehr zugelassen, und die dort befindlichen werden angehalten, chinesische Fernsehsendungen anzuschauen und den "patriotischen Unterrichtsstunden" beizuwohnen, anstatt buddhistische Studien zu betreiben. Ein wichtiger, vom 17. Karmapa als Tulku anerkannter Knabe wurde inzwischen aus seinem Kloster bei Tsurphu entfernt.

Der 15-jährige Karmapa, das geistige Oberhaupt der Karma Kagyu Schulrichtung des tibetischen Buddhismus, traf am 5. Januar 2000 in Dharamsala, dem Wohnsitz des Dalai Lama und Sitz der tibetischen Regierung-im-Exil ein. Ugyen Trinley Dorje, der sowohl vom Dalai Lama als auch von Peking als der 17. Karmapa anerkannt wurde, bekam immer noch keine Erlaubnis, zu seinem Exil-Stammsitz in Rumtek in Sikkim zu reisen oder von Journalisten interviewt zu werden. Die tibetische Regierung-im-Exil äußerte sich jedoch "zuversichtlich", daß der Karmapa in naher Zukunft nach Kloster Rumtek reisen könne. Tashi Wangdi, der Minister für religiöse Angelegenheiten in der Exilregierung, meinte TIN gegenüber, die Situation des Karmapa in Indien sei nun sicherer, insofern als er im Land bleiben dürfe: "Die indische Regierung verfolgt im Hinblick auf ihre Beziehungen zu China einen etwas vorsichtigen Kurs".

Die chinesische Regierung wurde wegen der Flucht des Karmapa aus Tibet in eine ziemliche peinliche Lage versetzt, was für den Mißerfolg der Partei spricht als Teil ihrer Anstrengungen, die chinesische Religionspolitik in Tibet zu legitimieren, Ugyen Trinley Dorje zu einer "patriotischen" und der kommunistischen Partei loyalen Figur zu formen. Die Regionalregierung leitete eine Untersuchung der genauen Umstände seiner Flucht ein, wobei sie auch Einzelheiten über seinen Weg durch Nepal in Erfahrung zu bringen suchte und eine dringliche Überprüfung der Sicherheit im Kloster vornahm. Die Mönche wurden wegen Verdacht auf Beteiligung einzeln vernommen, und die Sicherheitsmaßnahmen wurden verschärft, denn zusätzlich zu dem Demokratischen Verwaltungskomitee (DMC) des Klosters wurde nun noch Polizei in Tsurphu stationiert. Zwei Tibeter aus Tsurphu, die nach der Flucht des Karmapa ins Exil zu Vernehmungszwecken festgenommen wurden, sind bislang nicht ins Kloster zurückgekehrt und befinden sich wahrscheinlich immer noch in Haft, wie aus Berichten aus Tibet hervorgeht.

Ein unlängst aus Tibet geflohener Tibeter erzählte TIN: "Die Polizei im Kloster sagt den Mönchen, sie dürften kein Radio hören. Wenn man nach Indien ginge, dann sei das etwas ganz Schlimmes. Die Mönche sollen chinesisches Fernsehen schauen und chinesischen Rundfunk hören, sie sollen chinesische Spiele wie mah jong spielen und nicht die ganze Zeit Buddhismus studieren, weil dies etwas Unnützes sei und für die Zukunft nichts bringen würde. Unser Lama sei nach Indien gegangen, aber seine tibetischen Anhänger dürften ihm nicht folgen." Gegenwärtig gibt es etwa 320 Mönche in dem drei Stunden Fahrt von der tibetischen Hauptstadt Lhasa entfernten Tsurphu. Mehrere Mönche sollen in letzter Zeit hinausgeworfen worden sein als Folge der jüngsten Verfügung der Regierung, wonach staatliche Angestellte und Parteikader ihre Kinder aus den Klöstern zu nehmen haben.

Anfangs letzten Jahres durften keine Touristen mehr das Kloster besuchen; inzwischen werden einige wieder zugelassen. Ein westlicher Tourist, der in den letzten Monaten Tsurphu besuchte, meinte TIN gegenüber: "Die Atmosphäre ist noch angespannt, und die Mönche scheuen sich, mit Ausländern zu reden". Immer noch sieht man Aushänge von Verhaltensregeln, die von dem DMC vor der Flucht des Karmapa angebracht wurden und auf denen überholte Anordnungen stehen, etwa, daß niemand ohne Erlaubnis mit dem Karmapa reden dürfe.

Weiter wurde TIN berichtet, ein Kind, das vom 17. Karmapa als Pawo Rinpoche anerkannt wurde, sei von seinem Kloster in eine normale Schule versetzt worden. Pawo Rinpoche war der erste vom 17. Karmapa anerkannte tulku (reinkarnierter Lama) und ist eine wichtige Gestalt in der Kagyu Richtung des Buddhismus mit Stammsitz in Kloster Nyenang bei Tsurphu, in Kreis Toelung Dechen (chin. Duilong Deqing), Bezirk Lhasa.

Die Eltern des Karmapa, die Nomaden Dhondup und Loga, sollen sich, nachdem sie ihr Haus in Lhasa verlassen mußten, in ihrer Heimatpräfektur Chamdo (chin. Changdu) in der Autonomen Region Tibet befinden. Es heißt, daß sie immer noch von lokalen Behörden überwacht werden.

Der Status des 17. Karmapa in Indien

Seitdem Ugyen Trinley Dorje letztes Jahr in Indien ankam, verfolgt er seine Studien in dem Gyutoe Kloster in Sidhpur, das wenige Meilen von Dharamsala entfernt ist. Er darf sich auf keine Reisen begeben, noch mit Journalisten sprechen, obwohl er oft Besucher und Pilger empfängt. Die indische Regierung schränkte die Bewegungen des Karmapa und Presseerklärungen ein im Hinblick auf die prekären Beziehungen Indiens mit China und die heikle Angelegenheit seiner Rückkehr nach Sikkim, das 1973 von Indien annektiert wurde (China anerkennt Indiens Anspruch auf dieses Gebiet nicht). Ebenso spielen Sicherheitsgründe eine Rolle. Eine Gruppierung in der Karma Kagyu Schulrichtung des tibetischen Buddhismus weigert sich, Ugyen Trinley Dorje als Karmapa anzuerkennen und präsentiert ihren eigenen Kandidaten, den 17-jährigen Thaye Dorje.

Der Minister für Religionsangelegenheiten in der tibetischen Regierung-im-Exil Tashi Wangdi äußerte sich gestern TIN gegenüber folgendermaßen: "Die Lage ist die, daß der Karmapa in Indien bleiben kann. Es ist falsch zu sagen, er benötige einen gesetzlichen Status; die indische Regierung erlaubt ihm, zu bleiben. Sie möchte jedoch nicht, daß viel Aufhebens von ihm gemacht wird, und sie legt Wert darauf, daß alle Schritte mit Vorsicht unternommen werden, besonders in diplomatischer Hinsicht und angesichts bevorstehender Besuche hoher Funktionäre der CCP in Indien: Li Peng, der Präsident des Chinesischen Nationalen Volkskongresses kommt diesen Monat und Premierminister Zhu Rongji reist vielleicht auch bald nach Delhi. Aber wir sind zuversichtlich, daß der Karmapa eher früher als später nach Rumtek gehen wird, möglicherweise innerhalb der nächsten 6 Monate. Die indische Regierung hat eine positive Haltung seiner Zukunft gegenüber".

Der Karmapa schrieb kürzlich einen Brief an den indischen Premierminister Atal Bihari Vajpayee, in dem er um Erlaubnis bittet, zum Kloster Rumtek in Sikkim reisen zu dürfen. "Der Brief trug dazu bei, seine eigenen Ansichten und Umstände zu klären, was in dieser Lage nur hilfreich sein kann", meinte Tashi Wangdi. In dem Brief erläuterte der Karmapa die genauen Umstände seiner Flucht. Seit seiner Ankunft im Exil bestätigte er den Mangel an religiöser Freiheit in Tibet. In Tsurphu wurde das Ansuchen des Karmapa, daß ihm erlaubt werde, von seinen wichtigsten religiösen Lehrern Tai Situ Rinpoche und Gyaltsab Rinpoche unterrichtet zu werden, beharrlich verweigert, und er zeigte sich immer weniger bereit, den Forderungen der Partei zu entsprechen. Für die in der indischen Presse erschienenen Spekulationen, die Flucht des Karmapa sei von der chinesischen Regierung absichtlich inszeniert worden, gibt es keinerlei Beweise.

Auch der Dalai Lama ersuchte die indische Regierung, die Reiserestriktionen für den Karmapa aufzuheben, damit er seine religiöse Erziehung durch Annahme seines Sitzes und Titels im Exil weiterführen, sowie zu den Pilgerstätten in Indien wie Bodh Gaya und Varanasi reisen kann. "Mit der indischen Regierung leiteten wir Gespräche zur Lösung des Problems mit dem Aufenthaltsstatus des Karmapa ein", sagte der Dalai Lama bei einer Ansprache an die Dritte Internationale Karma Kagyu Konferenz im Gyutoe Kloster in Dharamsala am 21. August 2000. "Ich erklärte der indischen Regierung, daß der ursprüngliche Sitz des Karmapa Tsurphu in Tibet ist, und der zweite Sitz Rumtek in Sikkim. Es ist eigentlich logisch, daß der 17. Karmapa nach seiner Ankunft aus Tibet direkt nach Rumtek gehen und natürlicherweise den zweiten Sitz seines Vorgängers wieder einnehmen würde".

Der tibetisch buddhistischen Tradition zufolge ist die Hauptpflicht des Karmapa, Buddhismus zu studieren und zu praktizieren und seine Überlieferungslinie zu bewahren. Die Anwesenheit seiner hauptsächlichen Lehrer zur mündlichen Weiterreichung der Lehren und Initiationen gilt als eine Voraussetzung für diesen Prozeß, aber diese wurde dem Karmapa in Tibet verweigert.

Seit der Karmapa im Exil wohnt, hat er seine Loyalität zum Dalai Lama betont und auch seine Unterstützung für die Einheit unter den verschiedenen Schulrichtungen des tibetischen Buddhismus beteuert, nämlich den Kagyu, Gelug, Nyingma und Sakya Schulen. Der Dalai Lama betonte in seiner Rede bei der Karma Kagyu Konferenz letzten August die Bedeutung der jüngeren Linienhalter im Hinblick auf die Zukunft Tibets. "Als ich den Karmapa traf, sagte ich ihm, daß die gegenwärtige Generation allmählich alt wird, und ich nun schon 65 Jahre zähle. Wir (und alle Schüler) beten schon immer um das lange Leben der Lehrer, sowie um unzerstörbares Leben, aber Tatsache ist, daß jeder früher oder später sterben muß. Es gibt keine andere Wahl, nicht einmal für den Sakyamuni Buddha. Vor 41 Jahren wurde ich Flüchtling, und wir kämpfen immer noch um Tibets Freiheit... In naher Zukunft, so etwa in 10 bis 20 Jahren, werden die neuen Linienhalter der Sakyapas, Gelugpas, Kagyupas und Nyingmapas sehr wichtig sein. Dann wird es ganz und gar von der jüngeren Generation der Linienhalter abhängen. Gegenwärtig sind diese jungen Leute zwischen 15 und 20 Jahren sehr wichtig, zum Beispiel der Sohn S.H. des Sakya Trizin und der jetzige 17. Karmapa Ugyen Trinley Dorje".

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