1. Oktober 2002

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"Zerstreuen von Misstrauen und Missverständnissen" - Emissäre des Dalai Lama kehren aus Tibet zurück

Eine aus vier Personen bestehende Delegation unter der Leitung von Lodi Gyari und Kelsang Gyaltsen, den Emissären des Dalai Lama in den USA bzw. in Europa, und ihren Assistenten Buchung Tsering und Dakpo, erreichte am 27. September nach einer 18-tägigen Reise nach China und Tibet Dharamsala, den Sitz der tibetischen Regierung-im-Exil. Eine vorsichtig formulierte, doch zuversichtliche Erklärung, die am Tag darauf von Lodi Gyari abgegeben wurde, beschrieb die Mission als einen Versuch, "eine förderliche Atmosphäre zu schaffen, die in Zukunft direkte, unmittelbare Treffen auf regulärer Basis ermöglichen wird". Den in der Erklärung wiedergegebenen Kommentaren des Dalai Lama zufolge "werden diese zu einer gegenseitig annehmbaren Lösung führen". Weiter geht aus der Erklärung hervor, daß die Delegation als Thema für einen Dialog den vom Dalai Lama befürworteten "Ansatz des Mittleren Weges" vorgeschlagen hat. Dieser könnte Tibet "echte Autonomie" bringen - im Unterschied zu der weiteren direkten Regierung durch Peking einerseits und der vollständigen Unabhängigkeit, wie sie von vielen Tibetern in der Exilgemeinde gewünscht wird, andererseits.

Der Premierminister der tibetischen Regierung-im-Exil, Prof. Samdhong Rinpoche, wurde von Lodi Gyari "gründlich unterrichtet", wie es in der Erklärung heißt. Prof. Samdhong Rinpoche sagte daraufhin dem tibetischen Exil-Parlament, man könne jetzt noch nicht wissen, ob der Besuch der Delegation tatsächlich zu Verhandlungen über die Zukunft Tibets führen wird, doch er hoffe, daß diese im Juli 2003 beginnen können.

Lodi Gyaris Erklärung drückt sich optimistisch aus, der Besuch habe die Basis für "ein neues Kapitel in der Beziehung" zu China gelegt, während sich der Dalai Lama "sehr erfreut darüber äußerte, daß neue Kontakte hergestellt wurden".

Lodi Gyari, der Anfang 1980 bereits eine ähnliche Delegation führte, meinte: "Was uns dieses Mal am meisten beeindruckte, war die größere Flexibilität, welche die jetzigen Führungskräfte in ihrer Haltung zeigten". Die Erklärung hebt lobend "das Engagement und die Kompetenz vieler tibetischer Staatsbeamter" bei ihren "Bemühungen" um die Entwicklung der tibetischen Wirtschaft hervor, fügt jedoch hinzu, daß die Delegation nur etwas über Entwicklungsprojekte "erfuhr", während die Entwicklung doch Hand in Hand mit der Erhaltung von "Tibets besonderem kulturellen, religiösen und sprachlichen Erbe" erfolgen sollte.

Über die Reiseroute und die Art der Besprechungen wurde nur in groben Zügen berichtet. Der optimistische Ton der Erklärung läßt darauf schließen, daß die Delegation den Dialog weiter ausbauen und seinen Fortschritt nicht durch Preisgabe zu vieler Einzelheiten gefährden will. Nach ihrer Ankunft in Peking traf die Delegation mit Wang Zhaoguo, dem Leiter des "United Front Work Department" (UFWD) und Stellv. Vorsitzenden der politischen Konsultativ-Konferenz des chinesischen Volkes (CPPCC), sowie mit Li Dezhu, Minister bei der Staatskommission für ethnische Fragen (SEAC) und stellv. Vorsitzenden des UFWD, zusammen. Es heißt in der Erklärung, die Besprechungen seien "offen" und die "Atmosphäre herzlich" gewesen, als die Delegation die vom Dalai Lama vertretene Position der "Versöhnung und des Dialogs" darlegte. Lodi Gyari scheint von den Funktionären in Peking echt beeindruckt gewesen zu sein, denn er sagte in der Erklärung: "Die chinesischen Politiker hörten unseren Erklärungen mit lebhaftem Interesse zu und legten ihre Meinungen frei und spontan dar. Wir wissen dies sehr zu schätzen."

In Peking traf die Delegation auch mit Ngapo Ngawang Jigme, dem Vize-Vorsitzenden der CPPCC und dem ehemaligen Gouverneur der früheren tibetischen Provinz Kham, zusammen. Dieser gehört mit zu den Unterzeichnern des "17-Punkte-Abkommenens" von 1951. Die Delegation wurde außerdem von mehreren hochrangigen Funktionären der Regierung und Partei der Autonomen Region Tibet (TAR) empfangen, wie Ragdi, dem Vorsitzenden des Volkskongresses der TAR und stellv. Parteisekretär, von Legchog, dem Regierungschef der TAR und stellv. Parteisekretär, sowie von Samdrub, dem Leiter des "United Front Work Department" der TAR. Sie traf ebenfalls mit Atrin, dem stellv. Vorsitzenden der CPPCC der Provinz Sichuan, zusammen. Diese Begegnung ist insofern wichtig, als Peking bei früheren Gesprächen mit Vertretern des Dalai Lama bisher jegliche Diskussion über tibetische Gebiete außerhalb der TAR ablehnte (die traditionellen tibetischen Regionen Kham und Amdo, wo die meisten Tibeter wohnen, wurden den chinesischen Provinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan einverleibt). Dies könnte auf eine Aufweichung der Position Pekings in Bezug auf dieThematik des Dialogs hindeuten. Obwohl sich die Delegation gerade in Tibet befand, beharrte ,Legchog jedoch auf der üblichen unnachgiebigen Haltung gegenüber dem Dalai Lama, wie eine Pressekonferenz vor ausländischen Journalisten am 16. September beweist, wo er heftig die politischen Intentionen des Dalai Lama anprangerte. Während seines zeitgleichen offiziellen Besuchs in Dänemark nannte der chinesische Premier Zhu Rongji das Problem mit den Menschenrechtsverletzungen in Tibet eine "rein erfundene Geschichte" und kritisierte, daß dem Dalai Lama international so viel Unterstützung gewährt wird.

Sowohl Zhu Rongji als auch Legchog sprachen davon, wie wichtig es sei, daß Firmen aus dem Ausland in Tibet investierten. Bei der Pressekonferenz am 16. September erwähnte Legchog auch, daß die Zentralregierung eine "spezielle Politik" für Tibet verfolge und "jedes Projekt, das dem tibetischen Volk Nutzen bringe", gern billige. Er wiederholte auch die Einschätzung der Zentralregierung, daß während des 10. Fünfjahresplans (2001-2005) 90 Mrd. RMB (10,8 Mrd. USD) an Geldern in Projekte in der TAR investiert würden.

Bei dem Besuch früherer tibetischer Delegationen in den 80er Jahren war Peking verblüfft über die Sympathie, die das tibetische Volk ihnen jeweils entgegenbrachte. Um das diesmal zu verhindern, wurde Lodi Gyaris Delegation sorgsam abgeschirmt. Ebenso wie diese fiel auch der Besuch des älteren Bruders des Dalai Lamas Gyalo Thondup in tibetischen Regionen im Sommer 2002 mit Presse-Reisen ausländischer Korrespondenten zusammen, die vom Außenministerium organisiert worden waren. Einige Reporter versuchten jeweils mit Gyalo Thondup und Lodi Gyaris Delegation in Kontakt zu treten, doch die Erlaubnis wurde ihnen verweigert. Obwohl die Chinesen gerne darauf hinwiesen, daß Exil-Tibeter "in privater Eigenschaft" Tibet besuchten, wollten sie nicht, daß diese ihre Eindrücke und Ansichten mit ausländischen Reportern besprechen. Neben ihrem Treffen mit Regierungsvertretern besuchte die Delegation auch wichtige religiöse Stätten, wie den Jokhang Tempel und den Potala Palast in Lhasa und das Tashi Lhunpo Kloster in Shigatse, was die Mitglieder als eine "bewegende Erfahrung" beschrieben.

Während Lodi Gyaris Delegation noch in China weilte, sagte ein Sprecher des Dalai Lama am 26. September, daß dieser gerne eine Pilgerreise zu dem heiligen Berg Wutai Shan in der Provinz Shanxi unternehmen würde. Er ist von großer Bedeutung, denn er gilt als die wichtigste tibetisch-buddhistische Stätte in China. Als solcher war er in der Vergangenheit häufig ein Begegnungspunkt zwischen hohen tibetischen Lamas und der chinesischen Oberschicht. Seit 1985 hat der Dalai Lama wiederholt die Bitte um Erlaubnis für eine Pilgerfahrt zu diesem Berg geäußert.

Der Besuch der Delegation in Tibet und China ist für die Geschichte des Dialogs zwischen Peking und der tibetischen Exilgemeinde insofern bedeutsam, als er den ersten offiziellen Kontakt darstellt, seit die Kommunikation zwischen Peking und Dharamsala 1993 aufhörte. Lodi Gyari betonte jedoch, daß dies nur ein Beginn sei: "Wir bemühten uns, so gut wir konnten, die Grundlange für ein neues Kapitel in unseren Beziehungen zu schaffen. Wir wissen sehr wohl, daß diese Aufgabe nicht bei einem einzigen Besuch erfüllt werden kann." Er fügte hinzu, der Prozeß würde " die fortgesetzte Unterstützung und Bemühungen von vielen Seiten erfordern".

Samdhong Rinpoches Büro gab am 30. September ein Rundschreiben heraus, in dem er "alle Tibeter und Freunde Tibets" bittet, während des kommenden Besuchs von Präsident Jiang Zemin in den USA und in Mexiko von öffentlichen Protesten abzusehen, denn der Besuch soll als ein "Test für Chinas Antwort" betrachtet werden. Es gäbe Anzeichen, daß China nun zur Einleitung von Gesprächen bereit sei, fährt das Rundschreiben fort und schließt: "Dies ist eine entscheidende Zeit in unserem gewaltlosen Kampf. Es ist äußerst wichtig, daß die internationale Tibet-Bewegung eine einheitliche Position in so wichtigen Fragen wie dieser einnimmt. In einer Zeit, in der die internationale Gemeinschaft von Terrorismus, Gewalt und Kriegsgeschrei bedroht wird, könnte dies eine überzeugende Geste für Dialogbereitschaft, Gewaltlosigkeit und Versöhnung sein."

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