16. April 2002

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Tod eines Poeten und Gelehrten:
Nachruf auf Jigme Thegchog

Jigme Thegchog, der im Dezember 2001 im Alter von 50 Jahren nach langer Krankheit verstarb, war ein einflußreicher Gelehrter und Mönch und bekannt für seine freimütigen Ansichten über tibetische Kultur und Gesellschaft, besonders was die Bedeutung der tibetischen Sprache betrifft. Bevor Jigme Thegchog aus Regong (chin. Tongren) in der Präfektur Malho (chin. Huangnan), Provinz Qinghai (ehemals die tibetische Gegend Amdo), die Mönchsgelübde ablegte, war er verheiratet; außerdem ist er Vater von drei Kindern. Er war unter tibetischen Intellektuellen und Mönchen wegen seiner Gedichte, Prosa und kritischen Aufsätzen weit und breit bekannt, und er besaß eine hohe Bildung, sowohl im weltlichen als auch im religiösen Bereich.

Eine tibetische Quelle berichtete TIN: "Jigme Thegchog unterschied sich von anderen Mönchen, weil er seine eigene Meinung über die tibetische Gesellschaft und die Zukunft Tibets hatte, die nicht nur seinem religiösen Hintergrund entsprang, sondern auch der politischen und wissenschaftlichen Perspektive seiner Erziehung als Laie."

Jigme Thegchog studierte an dem Qinghai College für nationale Minderheiten in Xining, Qinghai (tib. Amdo), bei einem bekannten Gelehrten, dem inzwischen verstorbenen Lobsang Shedrub Gyatso, sowie bei dem angesehen Alag Tseten Shabdrung, der 1985 verstarb. Jigme Thegchog beschloß 1980, Mönch zu werden und gab sein Familienleben auf, um in dem Kloster Regong Religion zu praktizieren und den Buddhismus zu studieren. Im Laufe seines monastischen Lebens lehrte er an verschiedenen Klöstern und religiösen Institutionen in den tibetischen Gebieten und in China, darunter auch an dem Buddhistischen College im Kloster Kumbum in der Provinz Qinghai (Amdo) und 1987 kurzzeitig an einer Schule für tibetische Tulkus (reinkarnierte Lamas) in Peking, die vom 10. Panchen Lama gegründet worden war. 1998 erteilte er religiöse Einweihungen in dem Kloster Kirti in der Tibetischen Autonomen Präfektur Ngaba (chin. Aba), Provinz Sichuan, sowie in Rebgong. Jigme Thegchog schrieb auch ein Buch über die Geschichte Rebgongs und seine Klöster (in dem auch einiges seltenes Material über die Generationsfolgen der Familien dieser Gegend zu finden ist), das als eine besten wissenschaftlichen Abhandlungen über dieses Thema gilt.

In den letzten paar Jahren seines Lebens lehrte Jigme Thegchog junge Lamas im Kloster Regong. Nachdem er schon einige Zeit lang unter Diabetes und davon verursachten Beschwerden gelitten hatte, ahnte er wohl, daß er nicht mehr lange leben würde, denn es heißt, er habe etwa ein Jahr vor seinem Tod all seine Habe verkauft.

Eine andere tibetische Quelle erzählte TIN: "Jigme Thegchog war ein sehr freundlicher Mensch, aber er war auch unbeirrbar in seinen Anschauungen. Einmal gab es eine lange Diskussion unter den Intellektuellen in Qinghai wegen eines Zeitungsartikels, in dem es hieß, Tibet sei wegen seiner Kultur rückständig. Im Unterschied zu den anderen Mönchen war Jigme Thegchog nicht aufgebracht, er schrieb vielmehr eine Entgegnung, in der er meinte, dies sei eine gute Gelegenheit für Tibeter solche Fragen zu diskutieren. Er war sehr aufgeschlossen". Diese Quelle bezog sich auf eine Zeit, als wieder Studenten zum Studium religiöser Schriften in das Kloster zu gehen begannen. Während andere Mönche sie darin bestärkten, mahnte Jigme Thegchog stets seine Schüler, sich ebenso ihrer weltlichen Erziehung zu widmen. "Er sagte, man solle in die Schule gehen, um neue Dinge zu lernen, wenn man etwas über Religion erfahren wolle, sollte man jedoch Mönch werden". Ein tibetischer ehemaliger politischer Gefangener weiß ebenfalls zu berichten, daß Jigme Thegchog der weltlichen Erziehung einen ebenso hohen Stellenwert wie der religiösen beimaß: "Nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen worden war, lehrte mich Jigme Thegchog etwas tibetische Poesie und Literatur, um mir das Gefühl für den Wert unserer Kultur und Sprache zu vermitteln. Er riet mir immer gut zu, auf die Universität zu gehen".

Jigme Thegchog wurde oft von Radio-Reportern und Zeitschriften-Journalisten gebeten, seine Ansichten über die Tendenzen in der tibetischen Gesellschaft darzulegen. Er hatte ein sehr breitgefächertes Interesse an gegenwärtig diskutierten Themen und machte sich besonders über das Erziehungswesen und die Entwicklung Tibets Gedanken. Er betrachtete indessen die gegenwärtige Initiative zur Entwicklung der westlichen Regionen Chinas als überflüssig und betonte, daß bloßer wirtschaftlicher Fortschritt weniger wichtig sei als die Verbesserung des Lebensstandards der Tibeter, besonders im Hinblick auf die Erziehung. Eine der genannten Quellen meinte TIN gegenüber: "Hergebrachte Denkstrukturen herauszufordern und die Mentalität der Tibeter zu verbessern, stand bei ihm im Mittelpunkt. Er war auch fest davon überzeugt, daß jeder Tibeter die Verantwortung für sein eigenes Leben übernehmen müsse, statt die Gesellschaft und andere Leute zu tadeln".

Eines von Jigme Thegchogs bekanntesten Gedichten, das 1981 in dem tibetischen Literaturjournal "Leichter Regen" (sbrang char) veröffentlicht wurde, drückt seine Ansicht aus, wie notwendig die tibetische Sprache für Tibets kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritt und seine Modernisierung ist ("Vor der Einführung des tibetischen Alphabets im Schneeland bezeichneten sowohl Inder als auch Chinesen Tibet als das 'Land der Finsternis'"). Das Gedicht betont in beredten Worten die Wichtigkeit der Lebendigerhaltung der tibetischen Sprache im Zusammenhang mit der sich wandelnden tibetischen Gesellschaft. Zwei Jahrzehnte später ist dieses Gedicht hinsichtlich der Besorgnis um das Überleben der tibetischen Sprache in einer Zeit, in der Chinesisch zunehmend in der Verwaltung und dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben dominiert noch ebenso zutreffend. In dem Gedicht schreibt Jigme Thegchog, daß die tibetische Sprache das Vokabular und die Flexibilität besitze, um sowohl abstrakte Ideen als auch physische Realitäten wiederzugeben, und daß sie ebenso fähig ist, die feineren Aspekte philosophischer Prinzipien zu vermitteln und nicht auf der Logik basierende Argumente zu widerlegen. Er äußert in dem Gedicht auch, daß Tibeter "auf die tibetische Sprache angewiesen sind", um dem von China vorgezeichneten Pfad der "Vier Modernisierungen" zu folgen, womit er sagen will, daß die tibetische Sprache und Kultur mit den zeitgegebenen Realitäten koexistieren könne und müsse. "Die Wahre Sonne" ist ein weiteres bekanntes Werk Jigme Thegchogs, das in traditionellem religiösem Stil gehalten ist. Diese Prosaschrift kann auf verschiedenen Ebenen interpretiert werden, und einige Tibeter meinen, daß er darin auf einen seiner religiösen Lehrer sowie den Dalai Lama anspiele: "Du bist stetig, ewig und jenseits der Phänomene des Wandels... Möge der Himmel sich auch verändern, die Erde sich erschüttern, der Lotoshain wird sich niemals mit einem Schauer von Edelsteinen oder den Lichtstrahlen zufrieden geben, die Sehnsucht wird bleiben" (veröffentlicht in "Leichter Regen", 1991).

"Leichter Regen" ist das bedeutendste tibetisch-sprachige Literaturjournal, das unter der Schirmherrschaft des Schriftstellerverbandes von Qinghai erscheint. "Leichter Regen" verfolgt das Prinzip, nur auf Tibetisch geschriebene Geschichten zu veröffentlichen. Der tibetische Historiker und Autor Tsering Shakya sagt: "Dies weist darauf hin, daß die Herausgeber der Ansicht sind, tibetische Literatur sollte nicht aufgrund ihrer Thematik oder der ethnischen Zugehörigkeit des Autors definiert werden, sondern nur durch die Sprache".