3. April 2002

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Jigme Sangpo, der tibetische Gewissensgefangene mit der längsten Strafe, wurde entlassen

Tanak Jigme Sangpo, der tibetische politische Gefangene mit der längsten Haftstrafe, wurde am Sonntag, den 31. März, aus medizinischen Gründen entlassen. Die Behörden stellten ihm in Aussicht, falls er sich im Ausland ärztlicher Behandlung unterziehen wolle, so würde seine Bitte "wohlwollend in Erwägung gezogen". Der 76-jährige Jigme Sangpo (Tanak ist sein Familienname), ein früherer Grundschullehrer, wurde erstmals in den sechziger Jahren festgenommen und verbrachte den größten Teil der vergangenen 40 Jahre in Gefangenschaft. Seine Haftstrafe wurde wegen seiner politischen Bekundungen im Gefängnis zweimal verlängert. So hatte er etwa 1991 während des Besuchs einer Schweizer Delegation in Drapchi (Gefängnis No. 1 der Autonomen Region Tibet) "Free Tibet" gerufen. Jigme Sangpo war weit bekannt als einer der entschlossensten und unnachgiebigsten politischen Häftlinge in Drapchi, weshalb er von anderen politischen Gefangenen hoch geachtet wurde.

Wie es heißt, boten die Behörden Jigme Sangpo in den letzten zwei Jahren mehrere Male die Entlassung aus medizinischen Gründen an, wobei mindestens zwei Abordnungen von höheren Beamten nach Drapchi kamen, um diese Möglichkeit mit ihm zu besprechen. Den TIN zugegangen Berichten zufolge lehnte Jigme Sangpo diese Angebote jedoch ab, weil er fürchtete nach seiner Entlassung seinen Verwandten zur Last zu fallen. Außerdem habe er sich, wie er sagte, an das Gefängnisleben gewöhnt. Er sei auch unglücklich darüber gewesen, daß die Behörden ihm immer wieder nahe legten, ärztliche Behandlung im Ausland zu suchen, wo er doch in Tibet bleiben wollte. Als ihm nun neulich angedeutet wurde, er könne nach seiner Entlassung in Lhasa bleiben, falls er dies wünsche, wobei die Regierung einen eventuellen Antrag seinerseits, das Land zu verlassen "wohlwollend betrachten" würde, stimmte er schließlich zu. Jigme Sangpo, der viel älter ist als die meisten anderen politischen Gefangenen in China und Tibet, die aus gesundheitlichen Gründen freigelassen wurden, wohnt nun bei einer Verwandten in Lhasa. Seine Entlassung acht Jahre vor dem Ablauf seiner langen Haftstrafe, erfolgt auf viele Jahre von Kampagnen von Tibet Unterstützungsgruppen und NGOs in der ganzen Welt. Westliche Regierungen, besonders diejenige der Schweiz und der USA, erwähnten seinen Fall mehrere Male bei Gesprächen mit chinesischen Regierungsvertretern.

Jigme Sangpo, der aus Chushur (chin. Chushui) in der Gegend von Lhasa stammt, wurde zuerst 1965 zu drei Jahren "Umerziehung-durch-Arbeit" verurteilt, weil er chinesischen Angaben zufolge "seine Schüler körperlich gezüchtigt" habe. Zuverlässige, TIN zugegangene Berichte besagen, daß er politischer Aktivitäten wegen ab 1970 erneut 10 Jahre lang im Gefängnis war. 1983 wurde er wegen "Verbreitung und Anstiftung zu konterrevolutionärer Propaganda" zu 15 Jahren Gefängnis und 5 Jahren Verlust der bürgerlichen und politischen Rechte verurteilt, nachdem er am 12. Juli selbigen Jahres ein von ihm selbst geschriebenes Wandplakat an das Haupttor des Jokhang Tempels in Lhasa geklebt hatte. Laut dem Prozeß- und Urteilsdokument kritisierte das Plakat "die Führung unseres Landes", denn es stand darauf, "Tibeter sollten nicht wegen der Unruhen von 1959 verfolgt werden", außerdem forderte es "gewaltsamen Kampf und tibetische Unabhängigkeit nebst anderer reaktionärer Propaganda". Dieses Urteil wurde um 5 Jahre verlängert, nachdem er am 1. Dezember 1988 im Drapchi Gefängnis "reaktionäre Parolen" gerufen hatte. In dem Verurteilungstext zu dieser Strafverlängerung heißt es: "Das Gericht erklärt daher, daß der Angeklagte Jigme Sangpo nicht nur mit seinen Aktivitäten zugunsten reaktionärer Elemente fortfuhr, sondern darüber hinaus noch in der Gefangenschaft andere aufwiegelte und konterrevolutionäre Propaganda verbreitete".

Dem Vernehmen nach wurde Jigme Sangpo am 6. Dezember 1991 geschlagen und sechs Wochen in Einzelhaft eingeschlossen; außerdem wurde sein Hafturteil um 8 Jahre verlängert, weil er während des Besuchs des Schweizer China-Botschafters im Drapchi Gefängnis "Free Tibet" gerufen hatte. Damit lautete sein Urteil nun auf 28 Jahre. Auf seine Beteiligung an den Protesten vom 1. und 4. Mai 1998 im Drapchi Gefängnis hin kam Jigme Sangpo wieder in Einzelhaft und wurde wahrscheinlich, ebenso wie fast alle anderen politischen Gefangenen in Drapchi zu dieser Zeit, schwer geschlagen und mit peinlichen Verhören gequält. Ein ehemaliger politischer Häftling erzählte TIN, während der Proteste habe Jigme Sangpo andere Gefangene gemahnt, nicht zu gewalttätigen Akten zu greifen. "Er fürchtete, wir könnten dies tun, weil wir so wütend waren", fuhr besagter Häftling fort.

Mehrere Jahre lang war man ernstlich um Jigme Sangpos Gesundheit besorgt. Die Chinesen erklärten in ihrer Antwort auf eine Anfrage des Schweizer Botschafters in Peking im September 1997, daß er an "hohem Blutdruck" leide, aber allgemein bei "guter Gesundheit" sei. Sie teilten dem Botschafter auch mit, Jigme Sangpo sei in Drapchi "von der Arbeitspflicht befreit" worden. 2000 gaben die Behörden zu, daß seine Gesundheit sich verschlechtert habe, und er wegen Herzerkrankungen behandelt würde. Nach Aussage John Kamms von der Dui Hua Foundation in San Francisco, der an den Verhandlungen um Jigme Sangpos Freilassung beteiligt war, heißt es jetzt, er leide an "altersbedingten Gebrechen", die jedoch "nicht lebensbedrohlich" seien.

Jigme Sangpos Freilassung aus medizinischen Gründen ist die zweite Entlassung eines prominenten tibetischen politischen Gefangenen dieses Jahr. Der tibetische Volksmusik-Student Ngawang Choephel wurde ebenfalls aus medizinischen Gründen entlassen und traf am 20. Januar in den USA ein, nachdem er 6 Jahre einer auf 18 Jahre lautenden Haftstrafe wegen Spionage verbüßt hatte. Die Entlassung Ngawang Choephels erfolgte im Vorfeld zu dem Gipfeltreffen in Peking zwischen US Präsident George Bush und dem chinesischen Präsidenten Jiang Zemin im Februar. Während Jigme Sangpos Entlassung mit der diesjährigen Sitzung der UN Menschenrechtskommission in Genf zusammenfällt, steht sie wahrscheinlich nicht im Zusammenhang damit, weil das Angebot einer Entlassung aus medizinischen Gründen schon viel früher erfolgt war, und weil dieses Jahr weder von Europa noch von den USA viel Druck ausgeübt wird, um bei der Kommission eine Resolution gegen Chinas Umgang mit den Menschenrechten zu unterstützen. Der Direktor der Dui Hua Foundation John Kamm, der sich auch für die Entlassung von Ngawang Choephel eingesetzt hatte, meinte TIN gegenüber, Jigme Sangpos Entlassung sei "ein weiterer Hinweis, daß die chinesische Regierung schließlich auf den internationalen Druck reagieren wird".

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