16. Dezember 2002

Tibet Information Network
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"Ärzte ohne Grenzen" ziehen sich aus Tibet zurück

Die unabhängige Hilfsorganisation (Médecins Sans Frontières = MSF oder "Ärzte ohne Grenzen") traf die umstrittene Entscheidung, sich Ende dieses Jahres nach 14 Jahren Engagement in humanitären und medizinischen Hilfsprojekten aus Tibet zurückzuziehen. Ein renommiertes Forschungs- und Behandlungsprojekt für die Kaschin-Beck-Krankheit (osteoarthritis deformans = symmetrische Deformierung der Extremitätengelenke) und andere medizinische Programme von MSF werden nun im Rahmen der europäischen Sektion der neu gegründeten karitativen Einrichtung Terma weiter betrieben. Das Projekt zur Verbesserung der Wasserqualität (Wassersanierungsprojekt) von MSF wird von einer anderen Organisation, dem "Save the Children Fund" fortgeführt werden. Einer der Direktoren von Médecins Sans Frontières, die 1999 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden, meinte: "Ab Januar wird die MSF-Fahne nicht mehr in Lhasa wehen".

Christoper Stokes, der Einsatzleiter bei MSF in Brüssel kommentierte: "Wir beenden nun unsere Tätigkeit in Tibet aus organisatorischen und personellen Gründen, doch möchten wir die Tür offenhalten, um möglicherweise zurückzukehren. Tibet ist ein schwieriges Aktionsfeld, um in einem dem MSF angemessenen Stil arbeiten zu können. Wir haben vor, uns nun mehr auf die Behandlung von Leuten mit HIV/AIDS in China zu konzentrieren". Einige der über 50 hauptsächlich tibetischen Mitarbeiter von MSF in Tibet - Techniker für das Wassersanierungsprojekt, ebenso wie medizinisches Personal - werden sicherlich bei anderen NGOs in der Gegend unterkommen. Die tibetischen Angestellten für das Kaschin-Beck-Projekt werden wahrscheinlich von der Hilfsorganisation Terma übernommen werden. Die Entscheidung zum Rückzug aus Tibet soll auf eine Neukonzipierung der Arbeitsstrategie für die Gegend und im Zusammenhang mit Personalproblemen und der Verlegung der Tibet-Projekte von MSF von Lhasa nach Peking hin getroffen worden sein. Den Mitarbeitern von MSF wurde von der Leitung erklärt, die Gründe für die Entscheidung seien, daß sich MSF fortan eher der Notfallversorgung als langfristigen Hilfs- und Entwicklungsprojekten widmen würde. Innerhalb von MSF gilt sie jedoch als umstritten.

MSF hat sich, seit es 1971 durch eine Gruppe französischer Ärzte gegründet wurde, dank seiner effektiven Arbeitsweise und der zahlreichen medizinischen Hilfsprojekte einen guten Ruf erworben. Die Beziehungen zwischen den Behörden in Tibet und MSF waren oft angespannt, teilweise auch wegen des Grundsatzes der NGO, "beim Umgang mit bestimmten Formen von Mißständen für die gefährdeten Bevölkerungsgruppen einzutreten". Im Juni 1997 wurde zwei höheren Mitarbeitern des MSF Teams kurzfristig die Arbeitserlaubnis entzogen - chinesische Behörden sollen dies damit begründet haben, daß die zwei Experten schon zu lange in Tibet gewesen seien. Den zweien wurde später, nachdem leitende Mitglieder von MSF nach Lhasa geflogen waren, um das Problem zu klären, wieder ein partieller Zugang zu der betreffenden Gegend gewährt. In den letzten Jahren schränkten die Behörden in Tibet das geographische Wirkungsfeld von MSF immer mehr ein, und die Organisation hatte es zunehmend schwerer, sich mit den Behörden über die Durchführung der Projekte zu einigen.

Die Probleme, die MSF im Laufe der Jahre mit den Behörden hatte, sollen ein wesentlicher Faktor bei der endgültigen Entscheidung der Hilfsorganisation zum Rückzug aus Tibet gewesen sein. Ein Angehöriger des MSF Teams, der in Tibet arbeitete, sagte, durch die Richtlinien aus Peking für die Bezahlung von medizinischen Diensten, die in ländlichen Gegenden als "kooperatives medizinisches System" (CMS) bekannt sind, habe sich MSF besonders seit Mitte der 90er Jahre immer größerem Druck ausgesetzt gefühlt. Um ihn zu zitieren: "Die Behörden wollten uns in einigen Fällen benützen, um ihre Politik durchzusetzen und damit wurde unsere Arbeit weiter eingeschränkt". Mindestens einmal wurde MSF erklärt, die Erlaubnis zur Durchführung der Projekte hinge davon ab, daß sie sich an das CMS System hielten, dem die Behörden die Priorität vor allem anderen geben. MSF wollte hingegen die medizinische Grundversorgung der Menschen verbessern, etwa durch die Beschaffung absolut notwendiger Medikamente. Derselbe Mitarbeiter sagte auch, die Direktiven aus Peking seien nicht an die Gegebenheiten in tibetischen Gebieten angepaßt gewesen, und ein Mangel an "sozialem Verständnis" habe bei dem Meinungsaustausch über Probleme der Gesundheitsfürsorge zu Schwierigkeiten geführt. Darüber hinaus erregten Korruptionsfälle bei den Lokalbehörden das Mißfallen von MSF - so forderten lokale Kader etwa während ihrer Tätigkeit in Tibet von der Hilfsorganisation, sie solle ihnen lieber Geld zum Kauf von Land Cruisers geben, statt in die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung zu investieren.

Die Behörden in Tibet üben eine strenge Kontrolle über die Aktivitäten aller ausländischen NGOs und Hilfsprojekte in tibetischen Gegenden aus. In Tibet sind weltweit mit die wenigsten NGOs aktiv, was zu der Besorgnis Anlaß gibt, der Rückzug von MSF könne sich nun auf diejenigen Tibeter, die bereits in den Genuß der Projekte gekommen sind, negativ auswirken.

Eine weiterführende Lektüre ist die neue Publikation von TIN: "Delivery and deficiency: health and health care in Tibet" www.tibetinfo.net/publications/helathbook.htm

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