"Religiöse Arbeit für das neue Jahrhundert":

Die Durchführung der Parteipolitik in der Provinz Sichuan

18. April 2002

Einführung
Neues Bildmaterial über die Demolierungen in dem buddhistischen Institut Serthar
Augenzeugenberichte der Abbruch- und der Ausweisungsaktion in Serthar
Parteipolitik und religiöse Restriktionen

Einführung

In einer Umkehr der etwas größeren Freiheit, die Anfang bis Mitte der achtziger Jahre gewährt wurde, sind nun in der Provinz Sichuan schrittweise Gesetze und Verordnungen eingeführt worden, um eine vermehrte offizielle Kontrolle über religiöse Aktivitäten zu gewährleisten. Der Abbruch von Wohnhütten und die Ausweisung von Mönchen und Nonnen in den berühmten buddhistischen Instituten Serthar und Yachen in der genannten Provinz stehen beispielhaft für diese politische Verlagerung. Die vorliegende Studie untersucht die Umstände, wertet neue Bilder und Informationen aus und analysiert die derzeitige Lage in einem der wichtigsten in Tibet verbliebenen Zentren des tibetischen Buddhismus, nämlich dem Serthar Institut, das auch unter dem Namen Larung Gar bekannt ist. Dieser Bericht, der sich auf Interviews, Photos, Videomaterial und die Analyse offizieller chinesischer Aussagen stützt, umfaßt drei Teile:

1) Bilder, die das Ausmaß der Zerstörung der Unterkünfte von Nonnen und Mönchen in Serthar veranschaulichen (Das TCHRD in Dharamsala zeigte zeitgleich mit diesem Bericht Reportern in New Delhi ein 10-minütiges Dokumentarvideo über die Situation in Serthar, das von zwei Mönchen des Serthar Institutes, die über den Himalaya nach Nepal geflohen sind, herausgeschmuggelt wurde. Es zeigt, wie Männer in Anzügen und bewaffnete Polizeikräfte Arbeiter überwachen, die auf einem hügeligen, grasbewachsenen Gelände mit Vorschlaghämmern, Pickeln und Brecheisen systematisch Wohnhütten zusammenschlagen, und wie weinende Nonnen in den Trümmern nach ihren Siebensachen suchen. Weitere Informationen zu diesem Video bei: Youdon Aukatsang, TCHRD, yaukatsang@tchrd.org, tel +91 1892 23363, fax +91 1892 25 25874, www.tchrd.org/home.shtml).

2) Augenzeugenberichte über die Verwüstung von Serthar und die Ausweisungen von Mönchen und Nonnen.
3) Eine Analyse der chinesischen Politik, die zur religiösen Repression in den tibetischen Gebieten Sichuans führte.

Neues Bildmaterial über die Demolierungen in dem buddhistischen Institut Serthar

Neue Bilder, die TIN zugingen und das Ausmaß der Zerstörung der Unterkünfte von Nonnen und Mönchen in dem buddhistischen Institut Serthar in der Kardze (chin. Ganzi) Präfektur in Sichuan zeigen, sind auf der Website von TIN unter www.tibetinfo.net/reports/trel/ser1.htm zu sehen (dieselben Bilder werden hier schwarzweiß wiedergegeben). Im Juni und Juli 2001 kamen Arbeitsteams nach Serthar, die mit dem Beistand uniformierter Polizeikräfte anfingen, die Wohnhütten abzubrechen. Die Bilder von Nonnen und Mönchen, die ihre Habseligkeiten aus dem Schutt ihrer zerstörten Hütten - meistens solide Holzbauten - sammeln, zeigt, daß die Abbruchaktion plötzlich erfolgte und den Bewohnern kaum Zeit gab, ihre Sachen herauszuholen. Diese Bilder widersprechen offiziellen chinesischen Erklärungen, denen zufolge Berichte über den Abriß von Wohnhütten in Serthar und die Vertreibung Hunderter von Mönchen und Nonnen "schlecht begründet" seien.

Die Behörden nahmen sich zuerst die Unterkünfte der Nonnen zum Abbruch vor. Berichten zufolge sollen weit über 1.000 Behausungen, darunter auch die Häuschen einiger chinesischer buddhistischer Studenten aus China und Übersee, zerstört worden sein, nachdem die Arbeitsteam-Kader im vergangenen Juni und Juli eintrafen und Hunderte von Mönchen und Nonnen zum Verlassen der Anlage zwangen (siehe TIN News Update vom 19.8.2001, unter www.tibetinfo.net/news-updates/nu190801.htm).

Zwei Mönche von Serthar, die inzwischen Tibet verließen, erzählten TIN: "Sie räumen nun peinlich genau das Gelände auf, wo die Buden und Häuschen zerstört wurden, sie ebnen den Grund ein und zermalmen die restlichen Steine, um ihn in einen schönen Ort zu verwandeln, an dem keine Spur der stattgefundenen Zerstörung mehr zu sehen ist. Sie säubern ihn vollkommen und pflanzen sogar Gras an. Sie möchten nicht, daß irgendein Zeugnis dieser Geschichte zurückbleibt".

Chinesische Offizielle leugneten die Berichte über Serthar. Im Laufe des Menschenrechtsdialogs im letzten Jahr erklärten sie der britischen Regierung, in Serthar sei "niemand gezwungen worden, seine religiöse Berufung aufzugeben". Von TIN erhaltene Berichte beweisen jedoch, daß die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen gerade dies bezweckten. Mönche und Nonnen aus ihren monastischen Gemeinschaften zu vertreiben, heißt, sie von ihren Lehrern und ihren Gefährten zu trennen und ihnen ihren sozialen Lebensraum und ihr Unterhaltssystem wegzunehmen. Diejenigen, die aus Larung Gar ausgewiesen wurden und in keinem anderen Kloster Aufnahme fanden, können ihr religiöses Leben bis zu einem gewissen Grade durch Studium und Gebet zu Hause fortsetzen. Aber es ist für eine Person sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, ein intensives religiöses Studium außerhalb der Einrichtung eines Klosters und ohne Zugang zu den Lehrern zu betreiben und sich weiterzuentwickeln. Zahlreiche Mönche und Nonnen, die aus Serthar ausgewiesen wurden, haben große Probleme, sich in die Laiengesellschaft zu integrieren, und vielen blieb daher nichts anderes übrig, als ins Exil zu fliehen.

Mehrere Monate nach dem Abbruch Hunderter von Nonnenunterkünften in dem Institut Serthar überfielen die offiziellen Arbeitsteams eine andere bedeutende monastische Siedlung, nämlich Yachen im Distrikt Payul (chin. Baiyu) in der Provinz Sichuan, um dort mit der Demolierung und der Ausweisung von Nonnen und Mönchen fortzufahren. Ein tibetischer Mönch, der viele Jahre in Yachen Gar verbrachte und letztes Jahr ins Exil entkam, erzählte TIN: "Viele Nonnen, welche die Siedlung verlassen mußten, haben sich nun in Klöster in der näheren Umgebung zurückgezogen. Aber sehr viele haben auch kein Kloster, wohin sie hätten zurückkehren können, und wissen nun nicht, wo sie ein Obdach finden sollen. Sie wollten auch gerne in der Nähe ihres religiösen Lehrers Achug Khenpo, des Abtes von Yachen Gar, bleiben. Nur Mönche und Nonnen aus Kreis Payul dürfen weiterhin in der Siedlung wohnen".

Wie Serthar zog Yachen Gar wegen des hohen Standards buddhistischer Gelehrsamkeit und der Ausrichtung des Instituts auf Meditation und spirituelle Disziplin Hunderte von Studenten aus China, Taiwan und Singapur an. Allen diesen Studenten aus dem Ausland wurde letztes Jahr befohlen, abzureisen. International Campaign for Tibet berichtete, daß in der monastischen Siedlung Yachen Gar bis 10. Oktober 2001 über 800 Hütten von Mönchen und Nonnen abgerissen und Mönche und Nonnen von außerhalb des Distrikts Payul zum Verlassen gezwungen wurden (ICT, 14. November 2001).

Augenzeugenberichte der Abbruch- und der Ausweisungsaktion in Serthar

Es folgen Interviews mit einer Nonne und einem Mönch aus Serthar, die inzwischen nach Indien geflohen sind. Um der Sicherheit ihrer in Tibet zurückgebliebenen Gefährten willen müssen sie anonym bleiben. Es sind einmalige Zeugnisse über die Verwüstung von Larung Gar und die Auswirkung auf das persönliche Leben der vertriebenen Mönche und Nonnen.

Das erste Interview wurde mit einer Nonne in den Zwanzigern geführt, die viele Jahre in Serthar gelebt hatte und 2001, nachdem die Arbeitsteams nach Larung Gar kamen, weggehen mußte. Sie zog sich dann für einige Wochen mit 20 Gefährtinnen in die Hügel hinter Larung Gar zurück. Später kam sie noch einmal nach Serthar und sah mit eigenen Augen, wie die Wohnhütten niedergerissen wurden. Danach machte sie sich auf den Weg ins Exil.

Frage: "Haben Sie ihr Häuschen selbst gebaut, als sie dort ankamen?"

Antwort: "Ja, zuerst mußten alle Mönche und Nonnen ihre eigenen Hütten bauen, als sie ins Kloster kamen. Aber jetzt wurden viele der Häuschen von den Chinesen zerstört".

F: "Wie viele wurden zerstört?"

A: 1.500 (Über das Ausmaß der Zerstörung in Serthar wurden unterschiedliche Zahlen genannt. Basierend auf dem Bildmaterial und anderen Zeugenaussagen, berichtete TIN früher, daß über 1.000 Hütten abgerissen wurden).

F: "Haben Sie dies selbst gesehen?"

A: "Ja."

F: "Wem gehörten die Häuschen?"

A: "Sie gehörten alle den Nonnen".

F: "Wurde auch Ihre Unterkunft zerstört?"

A: "Nein, es wohnte nämlich eine andere Nonne darin".

F: "Woher kam sie?"

A: "Sie ist aus dem Landkreis Serthar, und deshalb darf sie in Larung Gar bleiben. Aber ich komme aus einem anderen Distrikt, weshalb ich dort nicht mehr wohnen durfte".

F: "Wie viele Nonnen dürfen noch bleiben?"

A: "Vierhundert (Anm: TIN kann noch nicht bestätigten, wie zuverlässig diese Zahl ist; es scheint diejenige zu sein, die den Mönchen und Nonnen in Serthar von den Arbeitsteam-Kadern genannt wurde, um die offiziellen Quoten durchzusetzen. TIN Nachforschungen ergaben, daß nur Nonnen aus der lokalen Gegend in Serthar bleiben durften. Die Ausweisungen betrafen in erster Linie die Nonnen, und einem verläßlichen Bericht zufolge war dies der Fall, weil die Behörden behaupteten, die Ansammlung der Nonnen sei "illegal", während der Rest des Instituts mit offizieller Erlaubnis gebaut worden sei). Sie sind alle aus dem Distrikt Serthar. Wenn man nicht aus Serthar ist, darf man dort nicht bleiben. Die Chinesen sagten, in Larung Gar würden zu viele Nonnen wohnen, und diejenigen, deren Herkunftsort nicht Serthar ist, müßten gehen".

F: "Gilt dieselbe Regel für die 1.000 Mönche, die bleiben dürfen?"

A: "Nein, die 1.000 Mönche sind verschiedener Herkunft, nicht nur aus dem Kreis Serthar. Warum dies so ist, weiß ich auch nicht."

F: "Was passierte, als die chinesischen Behörden erstmals nach Larung Gar kamen?"

A: "Sie fragten uns, woher wir kämen. Dann steckten sie mich zusammen mit den anderen Nonnen von meinem Distrikt (Anm: Diese Aussage stimmt mit anderen Berichten überein, denen zufolge die Nonnen wohl aus administrativen Gründen gemäß ihrer Heimatkreise in Gruppen geteilt wurden). Dann gab es ein Meeting und die Offiziellen aus meinem Distrikt erklärten, daß wir nach Hause zurückkehren müßten, und falls wir aus Nomadenfamilien stammten, wir beim Viehhüten, und falls wir aus Bauernfamilien seien, wir bei der Feldarbeit helfen müßten. Die Chinesen sagten, ich dürfte nicht mehr bleiben, und deshalb verließ ich den Ort. Mit einigen anderen Nonnen zog ich in die Hügel hinter Larung Gar, wo wir uns 24 Tage aufhielten (Anm: TIN erhielt viele zuverlässige Berichte über Nonnen, die kein Obdach fanden, darunter auch Augenzeugenberichte über Serthar Nonnen, die in Xining, Chengdu und an anderen Orten um Geld und Essen bettelten. Da sie das Nonnengelübde abgelegt haben, wollen die meisten von ihnen nicht ins Laiendasein zurückkehren, aber oftmals werden sie auch in den Nonnenklöstern ihrer Heimat zurückgewiesen). Danach kehrten einige von uns nach Larung Gar zurück und sahen, daß viele der Häuschen zerstört worden waren. Wir waren sehr traurig. Die Chinesen waren immer noch da und sagten, wir dürften hier nicht bleiben, weshalb ich mit ein paar anderen Nonnen nach Lhasa ging."

F: "Welche Anweisungen gaben sie Ihnen für den Fall, daß es ein Nonnenkloster in ihrer Heimat gibt?"

A: "Obwohl es zwei Nonnenklöster in meiner Heimatgegend gibt, wurde ich dort nicht aufgenommen, weil ich neu bin und diese Klöster bereits ihre Belegschaftsgrenze erreicht haben".

F: "Konnten andere Nonnen in die Klöster zurückkehren, in denen sie zuvor gelebt hatten, wenn sie nur für ein paar Jahre nach Serthar gekommen waren?"

A: "Wenn sie die das Wohnrecht in ihrem Heimatkloster hatten, konnten sie auch dorthin zurückkehren. Aber nur wenige Nonnen in Larung Gar haben so ein Heimatkloster. Die meisten Nonnen waren ja gerade in Larung Gar, weil sie sonst in keinem Kloster unterkommen konnten (Anm: Der Standard des akademischen und religiösen Studiums der Nonnen in Serthar - eine der wenigen Stätten, wo auch Nonnen Khenpos werden konnten - war sehr hoch. Der Khenpo Titel steht in der Nyingma Tradition für einen hohen Grad buddhistischer Gelehrsamkeit, er ist etwa mit dem Geshe Titel der Gelugpa Schulrichtung vergleichbar. Aus diesem Grund besaß Serthar für viele eine so besondere Anziehungskraft)."

F: "Von welcher Behörde waren die Kader, die aus Ihrem Landkreis gekommen sind?"

A: "Sie waren von dem Amt für Religionsangelegenheiten meines Distrikts. Sie kamen zu mehreren".

F: "Waren bei dem Meeting auch Mönche aus Ihrem Distrikt dabei?"

A: "Nein, nur Nonnen, sie nahmen sich die Mönche separat vor. Viele Nonnen wurden krank, nachdem die Arbeitsteams in Larung Gar erschienen. Sie bekamen Verdauungsbeschwerden, Kopfweh, Nasenbluten. Im Distrikt Serthar wurden sie in keinem Krankenhaus aufgenommen. Man verabreichte ihnen Arznei und Injektionen, während sie im Gras vor dem Hospital saßen."

F: "Warum wurden sie im Hospital nicht aufgenommen?"

A: "Weil sie RMB600 (US$72) hätten zahlen müssen (eine exzessiv hohe Summe für Nonnen, die an der Armutsgrenze leben), und Nonnen haben nicht so viel Geld."

F: "Wie viele Tage hätte man sie im Hospital behalten, wenn sie RMB600 gezahlt hätten?"

A: "Es ging hier nicht um die Anzahl von Tagen. Wenn eine Nonne im Krankenhaus aufgenommen werden wollte, hätte sie sofort RMB600 zahlen müssen. Die meisten Nonnen können sich das nicht leisten. Die chinesischen Kader sagten, die Nonnen seien ja gar nicht krank, sie hätten nur nichts gegessen. Tatsächlich kam ihre Unpäßlichkeit daher, daß sie so sehr traurig waren".

F: "Sind Sie auch in diesem Hospital gewesen?"

A: "Ja, eine Nonne von meinem Heimatort war krank, und so ging ich mit ihr hin. Sie war drei Tage lang im Hospital, und wir mußten RMB600 zahlen."

F: "Woran war Ihre Freundin erkrankt?"

A: "Es war das Herz, sie litt an 'Herzwind' (ein tibetischer Begriff, der sich auf Depression und Melancholie bezieht)."

F: "Wo ist diese Nonne jetzt?"

A: "Sie wohnt zu Hause bei ihren Eltern, denn in ihrer Gegend gibt es kein Frauenkloster".

F: "Hat sie sich inzwischen erholt?"

A: "Nein, ihr Zustand ist derselbe".

F: "Wie viele Nonnen von Larung Gar wurden in dem Hospital von Serthar behandelt, als sie mit Ihrer Freundin dorthin gingen?"

A: "Über 50".

F: "Sind auch Nonnen gestorben?"

A: "Ja, ich weiß von drei Nonnen, die an 'Herzleiden' starben, aber wie ich hörte, sollen viele gestorben sein. Eine von ihnen ist aus meinem Heimatdistrikt (Anm: TIN hat keine genaue Bestätigung der Anzahl von Nonnen, die auf die Ausweisungen in Serthar hin starben oder die Umstände ihres Todes. Siehe TIN News vom 8. November 2001, www.tibetinfo.net/news-updates/nu081101.htm)."

F: "Wann starb sie?"

A: "Den Monat weiß ich nicht genau, es war, nachdem die Chinesen erklärten, sie würden unsere Häuschen zerstören. Danach starb sie in ihrer Hütte."

F: "War Khenpo noch dort, als sie starb? (Khenpo Jigphun ist der oberste Lehrer in Serthar, der inzwischen nach Chengdu gebracht wurde. Siehe www.tibetinfo.net/news-updates/nu081101.htm)."

A: "Ja."

F: "Als Sie von Serthar weg nach Lhasa gingen, wie viele Nonnen waren dort noch übrig?"

A: "Die meisten hatten den Ort bereits verlassen. Man erlaubte ihnen nicht mehr zu bleiben".

F: "Wohin sind sie gegangen?"

A: "Viele Nonnen zogen in die Hügel um Serthar. Sie hatten sonst keinen Ort, wohin sie hätten gehen sollen, und sie wollten auch nicht zu ihren Familien und zur Landarbeit zurückkehren. Für junge Nonnen ist es sehr schwierig, sie haben kein Kloster und wissen nicht, was tun. Viele sind nun in Lhasa, und etliche sind auch nach Hause zurückgekehrt".

F: "Und was passierte dann?"

A: "Ich verließ Lhasa mit ein paar weiteren Nonnen aus Serthar und wir erreichten über Nepal Indien. Unterwegs wurde ich von meinen Freundinnen getrennt, und später hörte ich, daß sie über die Grenze nach Tibet zurückgeschickt worden sind".

Das zweite Interview wurde mit einem Mönch in den Zwanzigern geführt, der viele Jahre lang in Serthar lebte. Er gehörte zu den1.000 Mönchen, die die Erlaubnis hatten, in Serthar zu wohnen, wegen der vielen Probleme wollte er jedoch nicht mehr dort bleiben wollte und gab daher seine Erlaubnis zurück, so daß ein anderer Mönch seinen Platz einnehmen konnte. Er berichtet, diese 1.000 Mönche seien auf Grund ihrer Studienleistungen ausgewählt worden.

F: "Wie viele Jahre haben sie in Ihrem Heimatkloster verbracht?"

A: "Es war nicht lange. Als ich jung war, lebte ich ein paar Jahre dort, und manchmal ging ich im Sommer zu den großen Festen hin, aber die meiste Zeit verbrachte ich in Serthar. Es waren etwa 10 Jahre."

F: "Bauten Sie Ihre Bude selbst, als Sie dort ankamen?"

A: "Ja, ich baute sie selbst, und sie kostete mich RMB5000 (US$604), ein Betrag, der mir von meiner Familie gegeben wurde."

F: "Was geschah in Serthar zu dem Zeitpunkt, als sie weggingen?"

A: "Die Chinesen kamen in das Kloster und erklärten uns, es gäbe nun neue Regeln und es dürften nur noch 1.000 Mönche und 400 Nonnen hier wohnen bleiben. Ich fiel unter diese Zahl, aber ich wollte nicht mehr dort bleiben. Nachdem ich sah, was die chinesischen Behörden angestellt hatten, war es mir nicht mehr zum Dableiben zumute. Ich dachte auch, ich sollte in mein Heimatkloster zurückkehren. Deshalb gab ich meine Erlaubnis zurück, damit ein anderer Mönch an meiner statt bleiben konnte".

F: "Wie wurden die 1.000 Mönche ausgewählt, denen man erlaubte, in Serthar zu bleiben?"

A: "Es waren die Mönche, welche die besten Leistungen in ihren Studien brachten, die ihre Gelübde vorbildlich einhielten und in der Disziplin hervorragten. Die Mönche mit den besten Studienergebnissen erhielten Erlaubnis zu bleiben, die anderen mußten gehen. Die 1.000 Mönche waren aus Qinghai, Sichuan und Lhasa, von lauter verschiedenen Orten. Die Nonnen, die bleiben durften, mußten alle aus Distrikt Serthar sein, aber bei den Mönchen war dies nicht der Fall".

F: "Was steht auf dem Erlaubnisschein?"

A: "Der Name des Mönches und weitere Einzelheiten, dann ist da ein Paßphoto und ein Stempel des Amtes für Religionsangelegenheiten. Die Mönche brauchten ihre Erlaubnisscheine nicht zu unterschreiben oder mit ihrem Daumenabdruck zu versehen; es stand auch nicht darauf, daß sie sich gegen Seine Heiligkeit stellen, oder welche Gebete sie verrichten und welche Studien sie betreiben können. Dieses Dokument besagt einfach, daß die Mönche in Serthar bleiben dürfen."

F: "Haben Sie zerstörte Mönchsunterkünfte gesehen, ehe Sie Serthar verließen?"

A: "Ein paar Buden chinesischer Mönche waren abgerissen worden, aber noch nicht viele. Die meisten zerstörten Hütten gehörten den Nonnen. Zahlreiche Nonnen lebten in Serthar, weil es in der Gegend nur wenige Nonnenklöster gibt. Als die Nonnen erfuhren, daß sie eine Erklärung gegen Seine Heiligkeit unterschreiben müßten, wenn sie in ihre Heimatorte zurückkehren wollte, zogen sich viele in die Hügel in der Nähe von Serthar zurück (Anm: Siehe TIN News 'Ausweisung von Nonnen und Studenten bedroht das Überleben eines wichtigen tibetischen buddhistischen Instituts' vom 19. August 2001)."

F: "Wie viele chinesische Kader kamen anfänglich nach Serthar?"

A: "Zuerst kamen die Beamten von der 'Vereinten Arbeitsfront' und von dem Amt für Religionsangelegenheiten aus Chengdu, der Provinzhauptstadt, um die Lage in Augenschein zu nehmen. Dann kamen verschiedene Leute aus den einzelnen Distrikten. Wir wurden in Gruppen geteilt, je nachdem aus welchem Distrikt wir waren. Dann registrierten die Kader der Vereinten Arbeitsfront und des Religionsamtes aus unserem jeweiligen Distrikt die Einzelheiten aller Mönche und verkündeten uns die neuen Regeln. Sie sagten, nur 1.000 Mönche dürften bleiben und die restlichen hätten augenblicklich zu verschwinden. Es gab ein paar Hundert Mönche meines Distriktes in Serthar. Ein paar Offizielle waren auch aus meinem Distrikt, aber die meisten kamen von der Präfekturverwaltung."

F: "Steht Ihre Unterkunft in Serthar noch?"

A: "Ja, die meisten Häuschen tibetischer Mönche blieben unzerstört".

F: "Wie viele Khenpos gibt es in Serthar?"

A: "Über dreihundert".

F: "Dürfen die Mönche, die aus Serthar vertrieben wurden, in ihre Heimatklöster zurückkehren?"

A: "Ja".

F: "Wurde von den Mönchen, die nicht bleiben durften, verlangt, ein diesbezügliches Dokument zu unterschreiben?"

A: "Nein, sie brauchten keine Erklärung zu unterschreiben, aber sie mußten dem Arbeitsteam bestätigen: 'Ich habe begriffen, daß 1.000 Mönche in Serthar bleiben dürfen, und ich werde unverzüglich an meinen Heimatort zurückkehren'."

F: "Mußten alle Mönche dies bestätigen?"

A: "Ja. Im Herbst hörte ich dann, daß die meisten von denen, die nicht bleiben durften, bereits weggegangen waren. Die meisten Nonnen hatten sich in die umliegenden Hügel verkrochen. Eine Nonne, die nicht gehen wollte, blieb einfach in ihrem Häuschen hocken. Die Chinesen gingen hinein und forderten sie zum Verlassen auf. Sie kauerte auf dem Boden, und ein chinesischer Kader war eine Teetasse nach ihr, so daß ihr Kopf zu bluten begann. Dann richteten sie eine Pistole auf sie, und es blieb ihr nichts übrig als zu gehen (Anm: Unklar ist, ob dies ein Augenzeugenbericht ist oder eine von anderen Mönchen und Nonnen gehörte und weitererzählte Begebenheit)".

F: "Wohin gingen Sie, nachdem Sie Serthar verlassen hatten?"

A: "Ich ging in meine Heimatgegend, aber dann mußte ich noch mal nach Serthar zurück, um meine Siebensachen zu holen, ich hatte dort noch Bücher und heilige Schriften und ich mußte meine Behausung für den neuen Mönch, der dort einzog, räumen".

F: "Wie viele Mönche und Nonnen waren noch in Serthar, als Sie zurückkehrten, um Ihre Sachen zu holen?"

A: "Die meisten waren bereits weggegangen. Ich empfand alles als ziemlich leer und öde".

F: "Gingen die Studien und Belehrungen weiter?"

A: "Ja, abgesehen von Khenpo Jigphuns Belehrungen wurden alle anderen weitergeführt".

F: "Wie viele Lehrer dürfen in Serthar bleiben?"

A: "Etwa einhundert (Anm: TIN ist nicht in der Lage, diese Zahl zu bestätigen)".

F: "Gab es noch irgend welche chinesischen Mönche dort?"

A: "Ein paar chinesische Mönche und Studenten waren noch dort, aber sie haben keine Erlaubnis mehr, alle chinesischen Mönche und Nonnen wurden des Ortes verwiesen (Anm: Die zuvor TIN zugegangenen Informationen besagen, daß alle chinesischen Mönche und Studenten, einschließlich derjenigen von Übersee, weggehen mußten, aber es könnte sein, daß noch ein paar dort sind. Unwahrscheinlich ist jedoch, daß es in Serthar noch Chinesen aus Taiwan gibt)".

F: "Haben die chinesischen Behörden irgend welche Veränderungen am Studienplan vorgenommen?"

A: "Nein, die Mönche können Chinesisch und Englisch lernen und alle kulturellen Studien betreiben".

F: "Müssen die Mönche Chinesisch lernen?"

A: "Nein, sie müssen nicht Chinesisch lernen, aber wenn sie wollen, können sie es tun (Anm: Aus diesem Interview geht nicht hervor, ob der Unterrichtsstandard gesunken ist)".

F: "Wohin gingen Sie dann?"

A: "Ich verließ daraufhin Tibet. Ich konnte eine Genehmigung ergattern und zur Grenze reisen. Wir waren eine kleine Gruppe und bezahlten einen guide, der uns nach Nepal bringen sollte. Aber als wir in Nepal ankamen, übergab er uns der Polizei. In der Polizeistation fragten sie uns, ob wir Geld hätten. Eine Frau in der Gruppe hatte RMB4000, und so mußte jeder von uns RMB1000 der Polizei geben. Sie drohten, falls wir das Geld nicht hergeben, würden sie uns der chinesischen Polizei aushändigen. Nachdem wir gezahlt hatten, kam am nächsten Tag ein Fahrzeug, das uns nach Kathmandu brachte."

Parteipolitik und religiöse Restriktionen

Der Abbruch der Behausungen und die Ausweisungen von Mönchen und Nonnen in Serthar und in Yachen sind Teil der zunehmenden Kontrolle der religiösen Aktivität in den tibetischen Siedlungsgebieten der Provinz Sichuan, was ein Abrücken von der größeren Freiheit, die Anfang bis Mitte der achtziger Jahre gestattet wurde, bedeutet. Die chinesische Regierung greift zunehmend auf bürgerliche Gesetze und Verordnungen zurück, um die Größe der Klöster in tibetischen Gegenden zu beschränken und die Anzahl der Mönche und Nonnen zu reduzieren. Dies entspricht der überall in der Volksrepublik China festzustellenden Tendenz, daß in geschickter Weise juristische Mechanismen zur Durchsetzung der Parteipolitik benutzt werden.

TIN vermutet aufgrund seiner Recherchen, daß die Behörden zwischen 1987 und 1994 wegen des Mangels an wirksamerer offizieller Kontrolle über religiöse Aktivitäten immer unruhiger wurden. Gleichzeitig wurde eine ganze Reihe von Verordnungen und Maßnahmen auf provinzieller und lokaler Ebene verhängt, um eine größere offizielle Kontrolle zu erreichen. Anfang bis Mitte der achtziger Jahre lag die Betonung der "religiösen Arbeit" in Sichuan auf der Eröffnung und Renovierung von Klöstern dank der Lockerung der Einschränkungen für die religiöse Ausübung. Später verlagerte sich die Betonung jedoch auf das "Management der Klöster", was eine vermehrte Kontrolle seitens der Behörden beinhaltete (Bericht des Amtes für Religionsangelegenheiten der TAP Kardze von 1989). Seit Ende der achtziger Jahre führten die Behörden Maßnahmen ein, um den Bau neuer Klöster in Schranken zu halten. 1992 erklärte das Amt für Religionsangelegenheiten von Kardze, einige Klöster würden ohne offizielle Genehmigung renoviert oder es würden gar neue gebaut und warnte: "Die Klöster in unserer Präfektur tun bereits den Bedürfnissen der religiösen Massen Genüge. Der springende Punkt ist die Verbesserung des Management. Von nun an wird es grundsätzlich weder Restauration von Klöstern noch Eröffnung neuer Stätten religiöser Aktivitäten geben... Auf allen Ebenen müssen die zuständigen Ämter die nicht autorisierte Bautätigkeit oder die Vergrößerung von Klöstern streng überwachen".

Die Provinzverwaltung Sichuan verfügte 1987, daß Mönche von außerhalb der Provinz nicht in den Klöstern Sichuans wohnen dürfen, wenn ihr Status nicht eindeutig ist oder sie keinen Personalausweis haben. Und selbst wenn ihr Status klar ist, dürfen sie ohne Zustimmung der örtlichen Polizeistation oder der Regierung nicht mehr als 5 Tage bleiben (für weitere Informationen in diesem Zusammen verweisen wir auf die TIN Publikation: "Relative Freedom? Tibetan Buddhism and Religious Policy in Kardze, Sichuan 1987-1999", www.tibetinfo.co.uk/publications/bbp/bbp33.htm).

Seit Mitte 1990 verfolgten die Behörden mit zunehmendem Argwohn die religiöse Aktivität in dem Serthar Institut, was schließlich in der Abbruch- und Ausweisungsaktion von letztem Jahr gipfelte. Sowohl im Fall von Serthar als auch von Yachen scheint die offizielle Rechtfertigung der Behörden die "Illegalität" der Bautätigkeit und der Ausdehnung der Institute über die "erlaubten" Grenzen hinaus, sowie die Durchsetzung der Obergrenzen für Mönche und Nonnen gewesen zu sein. Das behördliche Vorgehen folgt unmittelbar aus den neuen Gesetzen und Verordnungen im Zusammenhang mit dem "Management der Religion", die seit Ende der achtziger Jahre schrittweise in der Provinz Sichuan eingeführt wurden. Während die chinesische Regierung so tut, als ergebe sich die Eindämmung der religiösen Praxis und Gelehrsamkeit ganz folgerichtig aus dem normalen Prozeß des juristischen Systems, machen die Ereignisse in Serthar und Yachen deutlich, wie die bürgerlichen, politischen und religiösen Freiheiten durch die Geltendmachung dieser Gesetze unterdrückt werden.