15. Mai 2004
TIN News Update
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Zunahme der Verkehrsunfälle in Tibet - Harte Strafen für die Fahrer

Der Verkehr auf den zumeist nicht asphaltierten Straßen in Tibet wurde in letzter Zeit immer gefährlicher, und die Zahl der tödlichen Unfälle ist stark angestiegen. Während die von der Regierung kontrollierten Medien bisher getreu der Parteilinie, kategorisch "die Lage ist gut" ("xing shi da hao") zu erklären pflegten, um negative Berichte zu vermeiden und das Thema totzuschweigen, hat nun der Anstieg von schweren Unfällen anscheinend zu einer besseren Berichterstattung in den Medien geführt. Die Berichte folgen in der Regel durchweg demselben Schema und weisen die Schuld an den Todesfällen der Unerfahrenheit und dem Leichtsinn der Fahrer zu, bei denen es sich zumeist um Tibeter handelt. Sie verschweigen dabei jedoch, daß die angeblichen Fahrfehler häufig ein direktes Ergebnis der Umstände sind, unter denen letztere arbeiten müssen und auf die sie keinen Einfluß haben - insbesondere der Druck, den skrupellose Arbeitgeber auf sie ausüben. Der folgende Text, der TIN erst vor kurzem erreichte, ist eine Zusammenfassung eines ausführlichen Berichts über einen Unfall, der sich bereits am 22. April 2003 ereignete und von dem auch ausländische Touristen betroffen waren. Darin wird sowohl die Verbindung zwischen Profitstreben und Verkehrsunfällen als auch die ungenügende medizinische Versorgung, mit der die Unfallopfer rechnen müssen, und die Art und Weise, in der die Fahrer von den Behörden zu Sündenböcken gemacht und zu unterschiedlich harten Strafen - sogar Todesurteile gehören dazu - verurteilt werden, beschrieben.

Eine von Xinhua am 15. Januar 2004 veröffentlichte Nachricht mag als Beispiel für den Reportagestil bei tödlichen Verkehrsunfällen in Tibet dienen. Xinhua zufolge kamen bei einem Unfall im Distrikt Zayu sieben Passagiere ums Leben und eine Frau wurde schwer verletzt, als ein Lastwagen einen etwa hundert Meter hohen Abhang hinabstürzte. Als unmittelbare Unfallursache wurden die überhöhte Geschwindigkeit sowie der Umstand, daß der Fahrer keinen Führerschein besaß, genannt. Nur vier Tage zuvor hatte Xinhua über einen ähnlichen Unfall in der osttibetischen Präfektur Aba in Sichuan berichtet, bei dem 14 Menschen ums Leben gekommen waren. Und am 7. Januar gab es eine Nachricht über einen Unfall mit 19 Verletzten, von denen sich zwei in kritischem Zustand befanden, weil sich ein LKW in der Präfektur Shigatse überschlagen hatte. Wieder wurden überhöhte Geschwindigkeit und die Unerfahrenheit des noch in der Ausbildung stehenden Fahrers als Unfallursache angegeben. Laut einem Xinhua-Bericht vom 15. Januar wurden allein im Jahr 2003 in der TAR 1.317 Verkehrsunfälle registriert, bei denen 621 Menschen starben und 1.161 verletzt wurden. Angesichts der relativ geringen Anzahl von Fahrzeugen pro Kopf und der Tatsache, daß es in weiten Teilen Tibets immer noch keine für den motorisierten Verkehr geeigneten Straßen gibt, ist dies eine beachtliche Zahl. Darüber hinaus beziffert der Bericht die durch die Unfälle verursachten wirtschaftlichen Verluste, an denen ein verantwortungsloser Fahrstil, Überladung der Fahrzeuge und Raserei die Schuld trügen, auf 12,66 Mio. Yuan (= 840.730 GBP oder 1.529.540 US$ oder 1.273.873 Euro).

Der Unfall vom 22. April 2003 ereignete sich auf der Straße zwischen Lhasa und dem Yamdrok Tso (Lamdrok-See). In einem Minibus befanden sich neun Menschen - der tibetische Fahrer, der tibetische Reiseführer und sieben Touristen. Fünf der sieben Touristen kamen ums Leben, während die zwei Tibeter den Unfall überlebten. Der Fahrer zog sich lediglich eine geringfügige Hüftverletzung zu. Die Gruppe war schon mehrere Tage durch Zentraltibet gereist, um einige der wichtigsten Touristenziele zu besichtigen. Eigentlich hatte die Gruppe geplant, mit zwei Jeeps zu reisen, es kam jedoch so, daß sie statt dessen einen Minibus nehmen mußte, der zwar kein geeignetes Fahrzeug für nicht asphaltierte Straßen ist, die Reiseagentur aber weniger kostet. Der Fahrer hatte seinen Führerschein erst vor kurzem gemacht und verfügte daher über keine nennenswerte Erfahrung, gerade bei schwierigen Strecken. Den Touristen war sein Fahrstil nicht geheuer, weshalb sie den Reiseführer mehrmals darum baten, den Fahrer anzuweisen, er möge langsamer fahren, aber dieser reduzierte die Geschwindigkeit nicht.

Gegen 3 Uhr nachmittags kam der Wagen plötzlich von der Straße ab und stürzte einen ungefähr 100 Meter hohen Abhang hinunter. Zwei Touristen, eine Deutsche und eine Chinesin aus Übersee, überlebten nur deshalb, weil sie beim Absturz aus dem Fenster geschleudert wurden. Kurz nach dem Unfall erreichte ein Militärfahrzeug sowie ein zufällig dieselbe Strecke fahrender Wagen mit italienischen Ärzten die Unfallstelle. Obwohl die Deutsche so schwer verletzt war, daß sie umgehend Intensivbehandlung benötigt hätte, wurden beide Frauen in das Militärfahrzeug geladen und von dem tibetischen Führer zurück nach Lhasa geschickt. Vor der Abfahrt bat der Reiseführer die unverletzt gebliebene Chinesin inständig, der Polizei nichts von dem Geschehnis zu sagen. Es gibt zwei Versionen darüber, was danach mit ihm geschah. Einer zufolge sei er von der Unfallstelle geflohen und seither verschwunden, die andere besagt, er sei bis zur Klärung der Unfallursache unter Hausarrest gestellt worden.

Die medizinische Behandlung der Deutschen in Lhasa war dem Grad ihrer Verletzung nicht angemessen und hätte zu ihrem Tod führen können. Sie hatte einen Oberschenkelbruch und ein Gehirnödem. Die Ärzte in Lhasa beabsichtigten ursprünglich, sie schnellstmöglich zu operieren, hatten jedoch den OP-Termin im Hinblick auf das Ödem und die Gefahr, welche eine Narkose in diesem Zustand mit sich bringt, viel zu früh angesetzt. Das Reisebüro, welches die Tour organisiert hatte, stellte 48 Stunden nach Einlieferung der Frau ins Krankenhaus einen Dolmetscher für Deutsch und Chinesisch bereit. Die zuständigen Ärzte hatten die im selben Krankenhaus tätigen ausländischen Mediziner nicht darüber informiert, daß bei ihnen eine schwerverletzte Ausländerin liegt. Etwa 72 Stunden nach der Einlieferung setzten sich ein österreichischer Arzt, der in Tibet Urlaub machte, und ein dort lebender Deutscher, der von dem Unfall erfahren hatte, mit dem Vater der Frau in Deutschland in Verbindung und warnten ihn, daß seine Tochter eine Operation zu diesem Zeitpunkt kaum überleben würde. Mit Unterstützung der deutschen Botschaft in Peking konnte der Vater die Ärzte davon überzeugen, daß die Operation verschoben werden muß. Schließlich wurde die Frau erst dann operiert, als das Risiko vertretbar war, und einige Tage später, als sie sich etwas erholt hatte, wurde sie ausgeflogen. Sie mußte in Deutschland nachoperiert werden, da die erste Operation nicht dem chirurgischen Standard entsprochen hatte und deshalb nicht erfolgreich gewesen war.

Was den Fahrer betrifft, der weniger als eine Woche im Krankenhaus verbrachte, so wurde er später in Lhasa festgenommen. Er gestand, daß er am Steuer eingeschlafen war, und in der Folge wurde er als der Alleinverantwortliche für den Unfall zum Tode verurteilt.

Es ist die übliche Praxis, daß die Reisebüros in Lhasa unzureichend ausgebildete Fahrer beschäftigen und ungeeignete Fahrzeuge verwenden, um so ihren Gewinn zu vermehren. Folglich werden weitere ähnlich schwere Unfälle nicht zu vermeiden sein. Den Fahrern werden häufig nur ungenügende Ruhezeiten zwischen den einzelnen Touren zugestanden. Da zu wenige Fahrer zur Verfügung stehen, verlangt man von den wenigen vorhandenen, eine Tour nach der anderen zu fahren, ohne daß sie dazwischen angemessene Ruhezeiten einhalten können. Sie fahren dann durchgehend mit hoher Geschwindigkeit, weil sie die Fahrzeuge rechtzeitig zur nächsten Tour wieder abliefern müssen. Das Damoklesschwert extrem hoher Strafen bis hin zur Todesstrafe hängt ständig über den Fahrern, denen die gesamte Verantwortung für eventuelle Unfälle aufgebürdet wird, weil die Behörden auf diese Weise der Öffentlichkeit wie auch den höheren Instanzen zeigen wollen, wie gewissenhaft sie sich an "Recht und Ordnung" halten. Abgesehen von der Frage, inwieweit solche Strafmaßnahmen überhaupt sinnvoll sind, scheinen sie für die Lösung der Gesamtproblematik ungeeignet zu sein, da sie nicht deren Wurzel angehen, nämlich die Bedingungen, unter denen die Fahrer ihre Tätigkeit ausüben müssen. Außerdem werden diejenigen, welche für diese Umstände verantwortlich sind - also die paar, die von dem wirtschaftlichen Fortschritt in Tibet profitieren - nicht zur Rechenschaft gezogen und strafrechtlich belangt.

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