16. November 2007
TibetInfoNet
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„Seinen Schild mit seinem eigenen Speer durchbohren“ (1)

Über die " Maßnahmen zum Management der Reinkarnation lebendiger Buddhas im tibetischen Buddhismus"

Westliche Medien, Tibet-Unterstützergruppen, tibetische Exilvertreter und nicht zuletzt die große Mehrheit der Tibeter haben sehr besorgt auf das neue Regelwerk Pekings mit dem Titel "Maßnahmen zum Management für die Reinkarnation lebendiger Buddhas im tibetischen Buddhismus" (chin. Zangchuan fojiao huofo zhuanshi guanli banfa) reagiert. Inhaltlich handelt es sich dabei indessen nur um die formale Bestätigung des Status quo, d.h. wie der Staat die Sache bereits seit den frühen 90er Jahren in allen tibetischen Regionen gehandhabt hat, um die buddhistischen Reinkarnationen (tib. Tulku, chin. Huofo - wörtlich: lebendiger Buddha), die für die Kontinuität der Linien der tibetischen religiösen Lehrer verantwortlich sind, unter Kontrolle zu halten. In erster Linie spiegelt die Einführung der „Managementmaßnahmen“ Pekings Bestreben wieder, die Durchsetzung der Bestimmungen reibungsloser zu gestalten, die diversen lokalen gesetzlichen Regelungen zu vereinheitlichen und sie durch übergeordnete staatliche Gesetze zu ersetzen. Deutlich wird auch die Absicht der chinesischen Behörden, sich die tiefe Gläubigkeit der Tibeter, die sie als Bedrohung ihres absoluten Machtanspruchs betrachten, für ihre eigenen Zwecke nutzbar zu machen. Obwohl sie damit bisher im großen und ganzen gescheitert sind, sorgt die Angelegenheit dennoch weiterhin für Dissens und damit Repression im heutigen Tibet.

Die kurzen „Managementmaßnahmen“ (2), die am 13. Juli 2007 von der „Staatsverwaltung für religiöse Angelegenheiten“ der VR China (State Administration for Religious Affairs = SARA) verabschiedet wurden, traten am 1. September 2007 in Kraft. Ihre 14 Artikel bilden die verwaltungstechnische Grundlage für die Vorgehensweise bei der Identifizierung von wiedergeborenen Lamas. Sie regeln,

  • ob die Suche nach einer neuen Inkarnation aufgenommen werden darf oder nicht,

  • die Art und Weise der Suche,

  • das Verfahren für die Anerkennung jedweder Reinkarnation und

  • wie die staatliche Genehmigung für diese Anerkennung zu erlangen ist.

Einem Mitarbeiter vom SARA zufolge wird jede tibetische Reinkarnation, der diese Genehmigung nicht erteilt wurde, als „illegal und ungültig" betrachtet, obwohl in den „Managementmaßnahmen“ selbst dessen explizite Erwähnung vermieden wird (3). Die „Managementmaßnahmen“ befassen sich ferner mit der Inthronisierung, Ausbildung und religiösen Erziehung von Reinkarnationen. Die neuen Bestimmungen institutionalisieren die Autorität von staatlichen Organen (SARA und deren Ableger auf unteren Verwaltungsebenen) sowie von staatlich unterstützten religiösen Körperschaften wie der Chinese Buddhist Association und unterstellen den gesamten Auswahlprozeß der staatlichen Kontrolle. Auf diese Weise greifen sie tief in das traditionelle tibetische Verfahren ein. Die Kontroverse zwischen den chinesischen Behörden und den tibetischen Buddhisten über die Rechtmäßigkeit von neuen Reinkarnationen erreichte 1995 anläßlich der Identifizierung des XI. Panchen Lama ihren vorläufigen Höhepunkt. Die Tibetische Regierung-im-Exil in Dharamsala nannte das neue Regelwerk „aberwitzig und ungerechtfertigt" und einen „weiteren Versuch, die religiöse Kultur Tibets zu unterdrücken und zu untergraben".

Ein seit langem bestehendes Dilemma

Peking beansprucht historische Legitimität, wenn es um die Kontrolle bei der Identifizierung neuer Reinkarnationen geht. So ist die Prozedur des "Loseziehens aus einer goldenen Urne" (chin. jinping che qian, tib. gser bum skrug pa) ein immer wiederkehrendes Thema sowohl in der chinesischen Propaganda als auch in akademischen Publikationen. Sie wurde in einem der 29 Artikel der „Autorisierten Anweisungen für eine verbesserte Regierung Tibets" festgeschrieben, die 1793 unter Kaiser Qianlong (1735-1795) herausgegeben wurden. Die Regierungszeit dieses Kaisers aus der Qing-Dynastie markierte den Höhepunkt des manchu-chinesischen Einflusses auf Zentraltibet. In den darauf folgenden Jahren, als es mit der Macht der Qing abwärts ging, wurde es allerdings kaum noch angewandt. Der Kaiser konnte das Los-Verfahren damit rechtfertigen, daß es ein Versuch war, Streit und Korruption bei der Bestimmung von Wiedergeburten ein Ende zu setzen. Er handelte dabei als Vermittler in seiner Funktion des Schutzherrn des tibetischen Buddhismus, einer Religion, zu der er sich selbst bekannte.

Die atheistische chinesische Regierung von heute beruft sich auf diese Bestimmung aus dem 18. Jahrhundert, um ihren Herrschaftsanspruch über Tibet zu rechtfertigen, und in den „Managementmaßnahmen“ (insbesondere Artikel 8) behauptet sie sogar, dies sei das übliche Vorgehen bei der Identifizierung neuer hochrangiger Reinkarnationen wie dem Panchen Lama oder dem Dalai Lama. Im November 1995, als es darum ging, seinen Kandidaten für die Rolle des Panchen Lama zu bestimmen, setzte Peking die Zeremonie des „Loseziehens aus einer goldenen Urne" im Jokhang-Tempel in Lhasa mit viel Spektakel in Szene. Man weiß allerdings nicht, ob das Resultat bei der Ziehung der Lose tatsächlich respektiert wurde oder ob dies nur die krönende Abschlußzeremonie war und der Kandidat vorher feststand.

Die moderne Herangehensweise an das Thema Religion in Tibet geht auf die nationalistische Guomindang-Regierung zurück. Ihre Kommission für „Mongolische und Tibetische Angelegenheiten“ führte 1936 die „Maßnahmen für die Reinkarnation lebendiger Buddhas" (chin. Huofo zhuanshi banfa) ein, womit die Souveränität Chinas über Tibet geltend gemacht werden sollte – ein Akt, der jedoch ohne Wirkung blieb. Ebenso wie die aktuellen „Managementmaßnahmen“ wurde in diesem Dokument detailliert das Verfahren bei der Suche, Identifizierung und Anerkennung von Wiedergeburten beschrieben. Es bezeichnete dabei die „Goldene Urne" als die einzig legitime Methode bei der Auswahl hoher tibetischer und mongolischer Inkarnationen.

In diesem Dokument werden fernerhin die Wiedergeburten nach ihrem jeweiligen Status in der Gesellschaft in diverse Kategorien eingeteilt und es wird gefordert, daß der gesamte Prozeß unter der Aufsicht der Regierung der Republik China vonstatten gehe, bei der, wie in dem Text behauptet wird, die Entscheidungsgewalt über alle Fragen, die mit neuen Inkarnationen in den tibetischen und mongolischen Gebieten zusammenhängen, läge. Tatsächlich kam es jedoch nur einmal zu einer von der chinesischen Regierung beaufsichtigten Inthronisierung einer hochrangigen Inkarnation, nämlich der des 10. Panchen Lama kurz vor dem Fall der republikanischen Regierung. Das war im August 1949 im Kloster Kumbum, aber die Zeremonie wurde ohne die „Prozedur der Goldenen Urne" durchgeführt. Auf einen Disput mit der tibetischen Regierung hin war der IX. Panchen Lama 1923 nach China geflohen, wo er 1937 verstarb. Das verschaffte der chinesischen Regierung - trotz Protesten aus Lhasa - die unverhoffte Gelegenheit, die Kontrolle über die Auswahl seiner nächsten Inkarnation an sich zu reißen.

Nach der Vereinleibung Tibets durch die VR China 1951 machte Peking in dem 17-Punkte-Abkommen einige vage Zusagen, am Status, den Funktionen und den Vollmachten des Dalai Lama und des Panchen Lama nichts zu verändern. Es gab bis dahin keine Gesetze oder Bestimmungen, in denen ihr legaler Status oder der anderer hochrangiger Wiedergeburten definiert worden wäre. Kurze Zeit danach, besonders während der „Demokratischen Reform des religiösen Systems" in den späten 50er Jahren, machten die tibetische buddhistische Hierarchie und die traditionelle tibetische Gesellschaft dramatische Veränderungen durch. Den meisten Reinkarnationen fielen damals den Säuberungen zum Opfer oder sie wurden jahrelang eingesperrt, so daß die Traditionslinien vieler religiöser Lehrer zum Erliegen kamen.

Die Frage der Rolle und Auswahl von Reinkarnationen gewann in der Zeit der religiösen Wiederbelebung in den späten 80er Jahren erneut an Bedeutung. Obwohl westliche Medien nur anläßlich der Inthronisierung des 17. Karmapa Ugyen Thinle Dorje im Juli 1992 und der Kontroverse um die Auswahl des 11. Panchen Lama im Jahr 1995 diesem Thema Beachtung schenkten, wurden seit 1990 etliche andere Wiedergeburten inthronisiert, ohne daß es zu ernsthaften Problemen zwischen den Behörden und der tibetischen Bevölkerung gekommen wäre. Diese lokalen Reinkarnationen haben bei der Wiederbelebung der tibetischen Klöster in den ländlichen Gegenden eine wichtige und nachhaltige Rolle gespielt.

Bestätigung des Status quo

Vor den neuen „Managementmaßnahmen“ gab es keine förmlich definierten Bestimmungen für Reinkarnationen, die öffentlich bekanntgegeben worden wären. Es gab lediglich interne Direktiven von Regierung (Büro für religiöse Angelegenheiten) und Partei (Abteilung der Einheitsfront), die sich detailliert mit der Auswahl, Identifizierung und Inthronisierung von Reinkarnationen befaßten (6). Diese Dokumente wurden niemals veröffentlicht und besaßen keine mit den „Managementmaßnahmen“ vergleichbare Rechtskraft, dennoch waren sie seit den frühen 90er Jahren maßgeblich für die Politik in dieser Sache. Die Prinzipien hinter diesen Direktiven, die schon seit vielen Jahren umgesetzt werden, entsprechen denen der neuen „Managementmaßnahmen“: Von einigen kosmetischen Änderungen abgesehen zementiert die VR China damit lediglich den Status quo.

Während die alten Richtlinien vorschrieben, daß der gesamte Prozeß der Anerkennung und Einsetzung von Reinkarnationen unter der Federführung der Partei vonstatten zu gehen habe, enthalten die „Managementmaßnahmen“ keine klare Aussage zu diesem Punkt. Vermutlich hängt das mit der gegenwärtig in China zu beobachtenden Tendenz zusammen, Funktionen, die bisher direkt von der Partei ausgeübt wurden, förmlich der staatlichen Exekutive zu übertragen (da die Partei in Wirklichkeit aber die Exekutive kontrolliert, wird dadurch die Macht der Partei faktisch nicht geschmälert).

Die „Managementmaßnahmen“ befassen sich ausführlich mit dem Prinzip der Nichteinmischung ausländischer Organisationen oder Individuen (Artikel 2), während in den früheren internen Direktiven ohne Umschweife erklärt wurde, daß es das Ziel sei, den Einfluß des Dalai Lama und der Exiltibeter völlig auszuschalten (7).

Regierungsorgane (vor allem die Staatliche Verwaltung für religiöse Angelegenheiten und deren Ämter in den Provinzen) führen bereits Listen von Personen, für welche eine Reinkarnation „genehmigt" wird. Diese schwerfälligen und bis ins kleinste Detail gehenden bürokratischen Anweisungen besagen, welche Anträge für die Suche nach neuen Inkarnationen zu genehmigen sind und wie der weitere Identifikationsprozeß abzulaufen hat. Wie bei den „Managementmaßnahmen“ (Art. 5) und den Guomindang-Vorschriften von 1936 kategorisierten diese internen Direktiven die verschiedenen Reinkarnationslinien bezüglich ihres Einflusses auf die tibetische Gesellschaft (auf lokaler, Provinz- und gesamttibetischer Ebene) und benannten die für die Genehmigung zuständigen Verwaltungsstellen innerhalb des Büros für religiöse Angelegenheiten. Diesen Richtlinien zufolge liegt die letzte Entscheidung über die höchsten Reinkarnationen (den Dalai Lama und den Panchen Lama) beim obersten Exekutivgremium der VR China, dem Staatsrat.

Im großen und ganzen bringt das kurze Regelwerk der „Managementmaßnahmen“ keine wesentlichen Veränderungen bei der Handhabung der Auswahl, Identifizierung und Inthronisierung von Reinkarnationen in Tibet mit sich. Eine derart massive Einmischung von Regierungsorganen in eine in erster Linie religiöse Angelegenheit sah man immer wieder seit dem Wiederaufleben des Buddhismus Anfang der 90er Jahre. 

„Managementmassnahmen“ und Vorschriften für religiöse Angelegenheiten

Die in den „Managementmaßnahmen“ enthaltenen Bestimmungen, die in Form einer Dienstanweisung von SARA veröffentlicht wurden, finden sich auch in den "Vorschriften für religiöse Angelegenheiten", die am 7. Juli 2004 vom Staatsrat angenommen wurden und am 1. März 2005 in Kraft traten. „Die Vorschriften für religiöse Angelegenheiten“ sind ein allgemeines verwaltungstechnisches und juristisches Regelwerk für staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften in China. Sie befassen sich mit Themen wie religiösen Gremien, Stätten religiöser Aktivitäten, religiösem Personal, dem Eigentum von Religionsgemeinschaften, usw. Sie bieten einen allgemeinen juristischen Rahmen ohne detaillierte Anweisungen für Aspekte, die individuelle religiöse Traditionen betreffen. Nur einmal, im Artikel 27, wo von den Reinkarnationen die Rede ist, wird der tibetische Buddhismus explizit erwähnt: "Die Abfolge von lebendigen Buddhas im tibetischen Buddhismus soll unter der Aufsicht der buddhistischen Gremien erfolgen und den religiösen Riten, Ritualen und historischen Traditionen entsprechen und muß bei der Abteilung für religiöse Angelegenheiten der VR China zwecks Genehmigung eingereicht werden".

Die neuen „Managementmaßnahmen“ ergänzen diese Vorschriften durch eine detaillierte Handlungsanweisung für den ganzen Prozeß. Ferner befassen sie sich mit der Rolle der buddhistischen Institutionen (d.h. den verschiedenen Zweigen der staatlich geförderten chinesischen Buddhistenvereinigung), die auf unterer Ebene für die Handhabung der Sache zuständig sind. Dennoch liegt die eigentliche Entscheidungsgewalt nach wie vor bei den Vertretern des Büros für religiöse Angelegenheiten. Einige Bestandteile der „Managementmaßnahmen“ sind gleichlautend mit den „Vorschriften für religiöse Angelegenheiten“, z.B. der Verweis auf die soziale Harmonie, die wiederum von dem Konzept der harmonischen Gesellschaft (chin: hexie shehui) herrührt, das Präsident Hu Jintao seit 2005 propagiert.

Im Anschluß an die Veröffentlichung der „Vorschriften für religiöse Angelegenheiten" wurden mehrere Schriftstücke entworfen, die sich im Detail mit den verschiedenen Religionen befassen. Während die Maßnahmen für protestantische Kirchen und den Islam (die im Sommer 2006 gebilligt wurden) vom „Komitee für die patriotische Bewegung Drei-Selbst" der protestantischen Kirchen in China und der Chinesischen Islamischen Vereinigung, d.h. von religiösen Körperschaften, aufgesetzt wurden, stammen die „Managementmaßnahmen“ direkt vom SARA, also dem zuständigen Organ der Zentralregierung. Dies unterstreicht, welches ungeheure Gewicht die Behörden dem tibetischen Buddhismus im allgemeinen und dessen Reinkarnationen im besonderen geben.

Wie erhält man patriotische Reinkarnationen? – Eine entscheidende Aufgabe der Tibetpolitik  

Alle offiziellen Dokumente der VR China über Tibet betonen ausdrücklich, daß die Kontrolle über die Suche, Identifizierung, Anerkennung und Erziehung von Reinkarnationen von wesentlicher Bedeutung für die Tibetpolitik ist. Nachdem die „Managementmaßnahmen“ herauskamen, interpretierten die meisten Berichterstatter sie im Hinblick auf die zukünftig irgendwann akut werdende Suche nach dem XV. Dalai Lama. So wichtig und entscheidend dieser Aspekt für die Zukunft der tibetischen Gesellschaft sowohl in der VR China als auch im Exil sein mag, haben die „Managementmaßnahmen“ eine weit größere Reichweite.

Gemäß der tibetischen Tradition fällt den örtlichen Reinkarnationen eine besondere religiöse und soziale Rolle in ihrer Gemeinschaft zu. Dem chinesischen Staat ist dies nur allzu bewußt, weshalb er die buddhistischen Hierarchien in den Mittelpunkt seiner Religionspolitik in Tibet gestellt hat. Infolgedessen haben die Behörden in den vergangenen Jahrzehnten der Ausbildung dieser jungen Tibeter ihre besondere Aufmerksamkeit geschenkt und dabei ständig betont, daß sie auf keinen Fall unter den Einfluß tibetischer Exilinstitutionen geraten dürften. Zu diesem Behufe wurde in den 80er Jahren auf Provinzebene ein Netz von buddhistischen Instituten (chin. foxueyuan) geschaffen. 1987 gründete der X. Panchen Lama in Peking das Institut für höhere buddhistische Studien (chin. Beijing gaoji foxueyuan), die höchste staatlich geförderte Bildungseinrichtung für tibetische Reinkarnationen und Mönche. Zweifellos vermitteln diese Institute höheres buddhistisches Wissen, aber gleichzeitig hat es der Staat darauf abgesehen, sich die Loyalität einflußreicher religiöser Würdenträger und ihre Treue zur Partei zu sichern. Die in Artikel 2 der „Managementmaßnahmen“ aufgeführten ideologischen Kriterien („Achtung und Schutz der Einheit des Staates“, „Einheit der Minoritäten“) machen deutlich, welches politische Profil von den Studenten erwartet wird.

Aus der Perspektive der chinesischen Regierung fungieren die Reinkarnationen als „Mittler" zwischen Staat und tibetischer Bevölkerung. Aus diesem Grund hat man viele von ihnen auf Zentral-, Provinz- und Präfekturebene in Gremien wie den Volkskongreß, die Politische Konsultativkonferenz des Volkes und die Buddhistischen Vereinigung berufen. Damit soll die angebliche Vorzugsbehandlung ethnischer und religiöser Minderheiten durch den Staat und seine Achtung vor den traditionellen tibetischern Hierarchien im besonderen herausgestellt werden. Politisch gesehen kommt den Angehörigen solcher Gremien allerdings kaum mehr als eine Jasager-Funktion zu. Gleichzeitig setzen die staatlichen Behörden alles daran, das Charisma der Reinkarnationen für ihre Zwecke auszunutzen: Sie wollen die Politik der Zentralregierung in den tibetischen Gebieten legitimieren, ohne dabei die Verfolgung ihrer politischen Ziele aus den Augen zu verlieren. Die chinesischen Behörden sind sich der Schlüsselrolle der buddhistischen Reinkarnationen auf allen Ebenen der tibetischen Gesellschaft nur allzu bewußt, und genau aus diesem Grunde will der Staat unbedingt die Kontrolle über sie und nun sogar auch über den Prozeß ihrer Auswahl besitzen.

Nach der Veröffentlichung der „Managementmaßnahmen“ erklärte ein Beamter beim SARA: „Die Regierung greift nur in diejenigen religiösen Angelegenheiten ein, die mit staatlichen oder öffentlichen Interessen zu tun haben. Rein religiöse Angelegenheiten sind davon nicht betroffen" (Xinhua, 4. August 2007). Dieser Feststellung und den Vorschriften der „Managementmaßnahmen“ gemäß heißt das, daß die Auswahl von Reinkarnationen als eine Angelegenheit des Staates betrachtet wird, offensichtlich weil die Reinkarnationen infolge des charismatischen Status, den sie bei den Tibetern genießen, eine Autorität besitzen, die ein System, das sich selbst als die absolute Autorität sieht, nicht umhin kann zu usurpieren. Die Zukunft wird zeigen, ob die praktische Umsetzung der Bestimmungen der „Managementmaßnahmen“ genug Raum läßt, um sowohl den tibetischen Buddhisten als auch den Erwartungen des chinesischen Staates Genüge zu tun. Bisher jedenfalls sind alle Bemühungen des chinesischen Staates, den höheren Inkarnationen seine Autorität  aufzuzwingen und damit gleichzeitig allen Tibetern, wie im Falle des Karmapa und des Panchen Lama, zweifellos gescheitert.

Anmerkungen:

1. Dieser Titel entlehnt das chinesische Sprichwort „seinen Schild mit seinem eigenen Speer durchbohren“ (chin. Yi zi zhi mao gong zu zhi dun), was bedeutet, seine eigenen Waffen gegen sich selbst zu richten. Im Kontext dieser Analyse illustriert er die Bemühungen Pekings, die Reinkarnationen, d.h. eine zentrale Institution der Tibeter, zu kontrollieren, um den Widerspruchsgeist der Tibeter zu brechen.

2. Englische Übersetzung der „Managementmaßnahmen“, siehe: http://www.savetibet.org/news/newsitem.php?id=1159.

3. Weitere Kommentare zu diesem Thema, siehe: http://www.cecc.gov/pages/virtualAcad/index.phpd#id98716.

4. Die Prozedur findet in historischen Texten gelegentlich Erwähnung, so z.B. in der Biographie des 9. Panchen Lama, der nach diesem Verfahren bestimmt wurde.

5. Siehe TibetInfoNet Update “Grooming a ‘Patriotic’ religious leader – Seventh Gungthang Rinpoche to be enthroned” vom 30. September 2006, wo die Umstände, unter denen eine lokale Reinkarnation inthronisiert wird, beschrieben werden.

6. Z.B. Zangchuan fojiao aiguozhuyi jiaoyu xuexi xuanchuan cailiao (Propaganda-Material für Erziehung und Studien in Patriotismus im Tibetischen Buddhismus), Lanzhou 1998, S. 193-199.

7. „Die 1991 erfolgte Wiederbelebung des Prozesses der Identifizierung von Reinkarnationen wurde besonders von religiösen Kreisen und vom gläubigen Volk begrüßt, weil die Identifizierung einer neuen Reinkarnation den Erwartungen einer gewissen Gruppe von Gläubigen entsprach. Sie bildete einen Gegenpol zu den politischen Machenschaften der Dalai Clique in bestimmten tibetischen Gebieten und vereitelte die Absicht der Dalai Clique, die Identifizierung von Tulkus für ihre auf die Spaltung des Mutterlandes ausgerichteten verschwörerischen Aktivitäten auszunutzen“ (Zangchuan fojiao aiguozhuyi jiaoyu xuexi xuanchuan cailiao (Propaganda-Material für Erziehung und Studien in Patriotismus im Tibetischen Buddhismus), Lanzhou 1998, S. 194.

8. Diese Instruktionen betrafen auch die soziale Herkunft der Reinkarnationen und warnten ausdrücklich davor, neue Reinkarnationen unter Kindern von Parteikadern auf Distrikt- und höherer Verwaltungsebene oder Kindern von Beamten auf Stadt- und höherer Verwaltungsebene zu suchen.

9. Im September 2006 formulierte die TAR-Volksregierung bereits vorläufige Maßnahmen für die Umsetzung der „Vorschriften für religiöse Angelegenheiten“, die am 1. Januar 2007 in Kraft traten. Es war dies ein weiterer Schritt, um für eine bestimmte Religion einen genau abgesteckten administrativen und juristischen Rahmen in Übereinstimmung mit den „Vorschriften für religiöse Angelegenheiten“ zu fixieren. Diese Maßnahmen handelten auch von dem Thema der Reinkarnationen, S. 36-40. Eine englische Übersetzung findet sich in dem kürzlich von der International Campaign for Tibet herausgegebenen Report

„The Communist Party as Living Buddha. The Crisis Facing Tibetan Religion under Chinese Control“, Washington 2007, S. 89-98, http://savetibet.org/documents/pdfs/2007ReligionReport.pdf. Nach dem Erscheinen der „Managementmaßnahmen“ dürften diese vorläufigen Maßnahmen wohl überholt sein.