20. Dezember 2010
Phayul, www.phayul.com

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Pemakoe, das letzte Paradies auf Erden, verschwindet

Von Claude Arpi

1818 gründeten die Briten den Great Trigonometrical Survey, die Vorläuferorgansation des Survey of India (der ältesten Abteilung der indischen Regierung: http://dst.gov.in/scientific_services/survey.htm). Sie dachten, der beste Weg zur „Eroberung“ des Subkontinents sei, ihn und das, was jenseits von ihm liegt, zu vermessen.

Sie setzten ihre besten Landvermesser ein. George Everest, nach dem später der höchste Gipfel des Planeten benannt wurde, war einer von ihnen. Eines der Hauptziele der Vermessung war, eine bessere geographische Vorstellung von den entlegenen Himalaya-Regionen, besonders von Tibet, zu gewinnen.

Die große Flußschleife des Yarlung Tsangpo, Ausschnitt aus einer Karte von Tashi Tsering

Die erfinderischen Engländer setzten Einheimische (die sie pundits nannten) ein, um das Dach der Welt zu vermessen (und auszuspionieren). Einer dieser pundits war der aus Sikkim gebürtige Kintup, alias KP. Er wurde mit einer besonderen Mission nach Tibet geschickt: Den Verlauf des Yarlung Tsangpo zu erforschen. Floß der mächtige südostwärts verlaufende Fluß wie der Mekong nach Burma oder floß er nach Indien.

Nach mehreren abenteuerlichen Jahren (ein paar Monate arbeitete er als Sklave in einem entlegenen Dorf in Südtibet) fand der des Lesens und Schreibens unkundige KP heraus, dass der Yarlung Tsangpo und der Brahmaputra ein und derselbe Fluß sind. Eine Strecke von etwa 120 Meilen des Flusslaufes, über welche der Brahmaputra von einer Höhe von 12.000 Fuß auf 3.000 Fuß abfällt, konnte er jedoch nicht auskundschaften. KP versuchte, dem Fluß stromabwärts zu folgen, aber kam nur bis zu einer Pemakoe genannten Gegend, die 40 Meilen nördlich des britischen Territoriums in Assam (dem heutigen Arunachal Pradesh) liegt.

KP versuchte dann, markierte Baumstämme den Fluß hinunterzuschicken, weil er sehen wollte, ob sie Assam erreichten. Unglücklicherweise konnte er seine Botschaft nicht nach Britisch-Indien vermitteln, und als er 1884 (nach vier Jahren Wanderung über Gebirgspfade) nach Assam zurückkehrte, glaubte ihm keiner seine Geschichte. Erst einige Jahre später fand das Vermessungsamt einige Baumstämme in Bengalen, und das machte KP berühmt.

Am Vorabend des Besuchs des chinesischen Premier Wen Jiabao in Indien trumpften mehrere offizielle chinesische Websites mit der Nachricht auf, dass diese Gegend, die auch als Metok (chin. Motuo) bekannt ist, letztendlich geöffnet wurde.

Das chinesische Fernsehen verkündete stolz: „Motuo –Traum des Anschlusses an die Außenwelt wird wahr“. Ein CCTV-Reporter präzisierte: „Motuo ist der einzige Bezirk unseres Landes, der noch nicht per Auto zugänglich ist. Der Bezirk befindet sich im Südosten der TAR. Wegen der harten natürlichen Gegebenheiten galt der Bau einer Straße dorthin früher als ein Traum. Jedoch soll in einer Woche der größte Tunnel fertig gestellt werden. Für den Motuo-Highway wird dann ein Traum wahr werden“.

Die große Flußbiegung des Yarlung Tsangpo oder Brahmaputra

Warum kam diese Nachricht, die ernste strategische Implikationen für Indien hat, und die Schlagzeilen in China machte, erst einen Tag vor Wens Ankunft in Delhi heraus?

Das erinnert mich an AB Vajpayees Besuch in China im Februar 1979. Er war der erste indische Staatsmann, der Peking seit dem Krieg von 1962 besuchte. Mitten während seines Besuchs griff China Vietnam an. Bei seiner Rückkehr informierte der zukünftige Premierminister das Parlament: „Als diese ernste Entwicklung durch Berichte bestätigt wurde, strich ich sofort den Rest meines Programms in China“.

Oder wieder während des Besuchs des indischen Präsidenten Venkataraman im Mai 1992: Der Besuch wurde überschattet von Pekings Beschluß, einen 420 Kilotonnen Nukleartest in einem vertikalen unterirdischen Schacht durchzuführen. Er soll einer der heftigsten seit Jahren gewesen sein. Warum hört Peking mit dieser Taktik nicht endlich auf?

Ehe er nach Islamabad aufbrach, sprach der „gute Wen“ mit indischen Journalisten. Er sagte ihnen: „Ich weiß, dass es über 500 Zeitungen in Indien gibt, und dass das indische System auf Pressefreiheit beruht. Aber gleichzeitig glaube ich, dass die Medien eine größere Rolle bei der Förderung der Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern spielen sollten.“

Verhilft jedoch eine laut hinausposaunte Ankündigung, dass die PLA bis in die entlegensten Winkel an der tibetisch-indischen Grenze vorgedrungen ist, dazu, die Freundschaft zu fördern? Oder war es nur eine Botschaft an Delhi, dass Peking im Falle eines Konflikts bereit ist?

Xinhua berichtete: „Der Bau eines Tunnels für eine Straße, die Tibets Bezirk Metok (in späteren Verlautbarungen wurde der tibetische Name verwendet) mit der Außenwelt verbindet, war vollendet, als das Gestein im letzten Abschnitt weggesprengt wurde. Die Mannschaft kündigte den Erfolg der Sprengung an, für die über 152 kg Sprengstoff eingesetzt wurden, und die Arbeiter trafen sich von beiden Seiten. Die Bauarbeiter brauchten über zwei Jahre, um den 3.310 m langen Galongla Tunnel, der in einer Höhe von 3.750 m verläuft, fertigzustellen. Er bildet einen Teil einer Fernstraße, die den Bezirk Metok mit der Außenwelt verbinden soll und die 2010 vollendet sind wird.“

Es mag schon stimmen, dass Metok der letzte Bezirk ohne eine Straßenanbindung in China war, aber wer würde glauben, dass all dieser Aufwand lediglich für eine winzige Bevölkerung von 11.000 Menschen getrieben wurde?

Die 117 km lange Metok-Fernstraße wird die indische Grenze mit der Staatsstraße 318 verbinden, die in Shanghai beginnt und durch die Provinzen Zhejiang, Anhui, Hubai, Chongqing und Sichuan verlaufend über Lithang, Batang, Markham und Bomi Osttibet erreicht, dann nach Lhasa weiterführt und an der Grenze zu Nepal (Zhangmu) endet.

Die neue Straße wird bei Bomi auf diese strategische Achse stoßen. Xinhua versicherte, dass der neue Tunnel „die Fahrzeit dramatisch verkürzt, weil die Fahrt durch den Tunnel nur eine halbe Stunde dauern wird“, wobei „90 km Straße zwischen dem Ende des Tunnels und dem Bezirk Metok, Präfektur Nyingchi, noch zu bauen sind.“

Die Stadt Nyingchi, die 200 km von Bomi entfernt liegt, wird bereits durch einen der größten Flugplätze in Tibet bedient. Er kann jährlich Hunderttausende von Touristen bewältigen, die von den Schluchten des Brahmaputra angezogen werden.

Sogar noch bedenklicher: Ingenieure, die für das Projekt der Ableitung des Wassers des Yarlung Tsangpo nordwärts über Hunderte von Kilometern gebirgigen Geländes nach den nordwestlichen Provinzen Xinjiang und Gansu tätig waren, planten das Hauptwasserkraftwerk in der Gegend von Metok.

Sie wussten, dass die Schluchten des Brahmaputra eines der höchsten Potentiale an Wasserkraft in der Welt bergen. Für Südasien und insbesondere für Indien sind die Kolossalität des Entwurfs und seine Nähe zu der indischen Grenze nicht zu leugnen. Es wird natürlich eine politische Entscheidung sein, aber die neue Straße macht sie nun praktisch denkbar.

Für die Tibeter ist die Region eine der ursprünglichsten ihres Landes. Sie betrachten die Gegend um die große Flußbiegung des Brahmaputra als die Wohnstätte der Göttin Dorjee Pagmo, der Schutzgottheit Tibets. Viele glauben, dass Pemakoe ein heiliges Reich ist, das oft in ihren Schriften erwähnt wird: Das letzte verborgene Shangrila. Es heißt auch, dass der große trantrische Meister aus Indien Padmasambhava den Ort im 8. Jahrhundert besuchte und die dortigen Geister zähmte und ihnen auftrug, die spirituellen Schriften für zukünftige Generationen zu bewahren…

Diese Region empfängt im Unterschied zu anderen Teilen Tibets eine Menge Regen, und um die große Flußbiegung findet man die seltensten Pflanzen- und Tierarten. Obwohl noch nicht voll dokumentiert, räumt der chinesische Staat ein, dass die Gegend über 60% der biologischen Ressourcen des tibetischen Hochlands beherbergt.

Es mag für China die Erfüllung eines Traumes sein, für Indien ist es ein Albtraum. Vor einigen Jahren, als Xi Jinping Parteisekretär der Provinz Zhejiang [an der Ostküste Chinas] war, erklärte er: „Wir müssen Maos strategisches Konzept der ‚Einheit von Soldaten und dem Volk’ umsetzen, daher sollten sowohl die Armee als auch die regionalen Zivilbehörden emsig alle Ressourcen koordinieren und bereithalten im Vorbereitung auf einen militärischen Kampf gegen Chinas Feinde.“ Es besteht kein Zweifel, daß die neue Straße noch ganz anderen als den offiziell vorgegebenen Zwecken dient (1).

(1) 31. Dezember 2010 „The End of Shangrila“ von Claude Arpi,