29. Juni 2004
Tibet Society of South Africa
Quelle: www.http://www.phayul.com

Die Zukunft Tibets hängt nicht vom Dalai Lama ab

Kommentar zu dem von China herausgegebenen Weissbuch

von Renato Palmi

"Der Dalai Lama und seine Clique können nicht länger über das Schicksal und die Zukunft Tibets entscheiden". Diese ominöse Warnung der VR China war in ihrem im Mai dieses Jahr veröffentlichten Weißbuch zu lesen.

Die VR China hat mit der Aussage, die Zukunft Tibets liege in den Händen Chinas, der vom Dalai Lama propagierten, gewaltfreien Annäherung des "Mittleren Weges" eine scharfe Absage erteilt. Für die internationale Free-Tibet-Bewegung, deren Aktivitäten sich bisher an den Wünschen und Prinzipien des Dalai Lama, also an absoluter Gewaltlosigkeit und Wahrheitsliebe orientierten, stellt das Dokument eine Art "Überschreitung des Rubikon" dar. Der Präsident von International Tibet Independence Movement, Larry Gerstein, sagte: "Durch die Zurückweisung der von der tibetischen Regierung-im-Exil und Seiner Heiligkeit, dem Dalai Lama, vorgeschlagenen Lösung des Mittleren Wegs hat die VR China den Tibetern und ihren Unterstützern eine exzellente Gelegenheit zum Überdenken ihrer Strategien und Erwartungen für die Zukunft Tibets gegeben".

Die tibetische Exilgemeinschaft hat auf das Weißbuch besorgt und verärgert reagiert. Karma Choephel, ein Mitglied des tibetischen Parlaments-im-Exil, unterstrich Gersteins Aussage: "Wenn es eine Sache gibt, die wir aus diesem Papier lernen müssen, dann ist es, daß die lang erhoffte Annäherung durch den Mittleren Weg nicht funktioniert".

Der Interpretation des Präsidenten des Tibetan Youth Congress, Kalsang Phuntsok, zufolge versuchen die Chinesen mittels dieses Dokuments "zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen", denn sie behaupten darin, China habe Fortschritt und Entwicklung nach Tibet gebracht und so der tibetischen Minderheit zu ungeahntem Aufschwung verholfen.

Gleichzeitig hat die VR China damit den Dalai Lama und die tibetische Regierung-im-Exil im Hinblick auf künftige Gespräche oder Verhandlungen über die Zukunft Tibets in eine schwierige Situation gebracht. Das Weißbuch besagt, die Forderung des Dalai Lama nach vollständiger Unabhängigkeit sei inakzeptabel und zudem unlogisch, denn Tibet sei schon immer ein Teil Chinas gewesen. Die Geschichte lehrt uns jedoch etwas anderes. Bereits 1988 ist der Dalai Lama einen Kompromiß eingegangen, als er "echte Autonomie für Tibet" forderte, was viel weniger ist als die vollständige Unabhängigkeit. Die chinesische Regierung hat jedoch beschlossen, dies zu ignorieren und statt dessen der Weltöffentlichkeit gegenüber zu behaupten, der Dalai Lama fordere nur deshalb die Unabhängigkeit, weil er das "Mutterland spalten" wolle. In den Augen der Chinesen ist die Invasion von 1949 weder illegal noch ein Akt der "Kolonisation". Wenn Tibet jedoch, wie von China behauptet, schon immer ein Teil Chinas gewesen ist, warum wäre es dann notwendig gewesen, ins eigene Land einzumarschieren?

Im Weißbuch der VR China heißt es: "Das tibetische Volk genießt die vom Gesetz vorgeschriebenen gleichen Rechte der Teilhabe an der Verwaltung von Staatsgeschäften" und "... seine traditionellen Sitten und Gebräuche werden geschützt und respektiert". Wenn dem so wäre, wie erklärt sich die VR China dann die Flucht von über 2.000 Tibetern jährlich, die alle Geschichten von Haft und Folter zu erzählen haben? Was sagt die VR China zum anhaltenden kulturellen Genozid in dem von ihr besetzten Tibet? Weiter heißt es: "Die Tibeter genießen völlige Religionsfreiheit". Wenn das stimmen würde, weshalb ist es den tibetischen Bürgern dann untersagt, Bilder ihres spirituellen Oberhaupts, des Dalai Lama, zu besitzen? Weshalb werden immer noch Klöster zerstört, tibetische Mönche und Nonnen intensiver Kontrolle und summarischer Inhaftierung durch die chinesische Polizei unterworfen und weshalb werden religiöse Feste verboten (oder falls gestattet, von chinesischem Militär streng überwacht)?

Wenn, wie im Weißbuch behauptet, "die Tibeter sich das Recht erworben haben, ihre öffentlichen Angelegenheiten gemeinsam und auf gleicher Ebene mit anderen ethnischen Gruppen zu regeln ...und Herr ihrer eigenen Lebensumstände zu sein", warum wenden dann die chinesischen Behörden derart restriktive Mittel in Tibet an?

Die im Exil lebenden Tibeter und die Tibet-Unterstützer erwarten nun die offizielle Antwort der tibetischen Regierung-im-Exil und des Dalai Lama auf das Weißbuch der VR China. Sie alle hoffen darauf, dieser Antwort Hinweise für die künftige Ausrichtung der gesamten Free-Tibet-Bewegung entnehmen zu können. Bei seinem Südafrika-Besuch im Jahr 1999 sagte der Dalai Lama vor dem Parlament der Weltreligionen in Kapstadt. "Wandel erreicht man nur durch Handeln ...nicht durch Gebet oder Meditation...".

Wir werden zum Zeugen, wie in vielen Teilen der Welt Veränderungen durch Gewaltaktionen erzwungen werden, die schlimme Folgen haben, und wir sind der sichtbaren Mißachtung und Zerstörung menschlicher Werte und menschlicher Leben überdrüssig und zutiefst bedrückt. Wir sehnen uns nach friedlichen Lösungen, zu denen man durch Verhandlungen gelangt – aber für die Tibeter ändert sich nichts, weder innerhalb Tibets, noch im Exil, und die Welt schaut schweigend zu ...

Renato Palmi

Gründungsmitglied der Tibet Society of South Africa

Die Tibet Society of South Africa (TSSA) ist eine eingetragene gemeinnützige Organisation, die für die Freiheit aller Tibeter eintritt und die tibetische Kultur, Geschichte und Religion fördert. Tel: 031 - 261 6096 / 031 - 260 2975 / 083 943 0235

Zusätzlicher Kommentar:

Gerade, weil es außer dem tibetischen weltweit keinen anderen gewaltlosen Freiheitskampf gibt, ist es unbeschreiblich traurig, daß sowohl China als auch die internationale Gemeinschaft diese Bewegung mißachten. Meiner Ansicht nach hat die chinesische Regierung mit der Veröffentlichung des Tibet-Weißbuchs vom Mai unmißverständlich jede Hoffnung auf einen Kompromiß mit dem Dalai Lama zunichte gemacht, denn sie ist sich gewiß, daß sie auf Grund ihrer weltweit florierenden Handelsbeziehungen niemals zu offiziellen Verhandlungen mit dem Dalai Lama bzw. der Regierung-im-Exil gezwungen werden wird.

Die internationale Free-Tibet-Bewegung sollte gemeinsam mit der tibetischen Regierung-im-Exil ernsthaft über die Neuformulierung ihrer gewaltlosen Strategie nachdenken. Das tibetische Volk kann sich nicht länger auf Gebete und mitfühlende Worte verlassen. Die Freiheitsbewegung wurde von der chinesischen Regierung bisher höchstens als ein lästiges Ärgernis angesehen. Vielleicht ist die Zeit gekommen, dafür zu sorgen, unser Anliegen überall auf der Welt so zu präsentieren, daß sie es nicht mehr auf die leichte Schulter nehmen kann. Wir müssen uns zügig auf konkrete Aktionen besinnen, anstatt anteilnehmende Reden zu schwingen und Gedenktage zu begehen. Die Unterdrückung und Ausrottung der Tibeter müssen ein Ende finden.

Quelle: www.http://www.phayul.com/news/article.aspx?id=7177&t=1&c=1