10. März 2003
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Strukturelle Veränderungen bei der politischen Gefangenschaft

In den Jahren 1997 bis 2001 nahm die Anzahl der wegen politischer Vergehen inhaftierten Tibeter rapide ab, was auf die große Zahl der Entlassungen aus den Gefängnissen und die geringere Anzahl von Festnahmen zurückzuführen ist. Dieses Muster scheint sich inzwischen jedoch verändert zu haben. Obwohl die Anzahl der politischen Gefangenen immer noch rückläufig ist, hat sich der Prozeß verlangsamt, wofür es mehrere Gründe gibt: Einige Gefangene verbüßen immer noch sehr lange Haftstrafen, während die Strafen anderer verlängert wurden. Außerdem gab es eine beträchtliche Anzahl an neuen Festnahmen in der osttibetischen Region, die früher Kham genannt wurde.

Die von TIN für politische Gefangene erstellte Datenbank verzeichnet mit Stand vom Februar 2003 etwa 150 Personen, die (vermutlich) in Haftanstalten oder Gefängnissen einsitzen. Obwohl TIN keine vollständige Übersicht über die gegenwärtige Anzahl der politischen Gefangenen in Tibet geben kann, liefert es Informationen über Fälle, die bestätigt und genauer bekannt sind. Bei weiteren 10 bis 20 Fällen einer Verhaftung aus politischen Gründen wartet TIN noch auf die Bestätigung. Die Gesamtzahl liegt daher eher bei 170, und alle bis auf zwölf sind Männer. Von den Frauen verbüßt etwa die Hälfte ihre Strafe in dem Gefängnis No. 1 der Autonomen Region Tibet (TAR), dem Drapchi Gefängnis. Den Unterlagen von TIN zufolge sind nur noch vier der in dem Report "Rukhag 3: The Nuns of Drapchi Prison"1 genannten und zu überlangen Strafen verurteilten Nonnen inhaftiert.

Zwischen 1997 und 2001 standen annähernd 500 durch die Justiz oder durch Verwaltungsorgane verurteilte Häftlinge zur Entlassung an, verglichen mit 45 im Jahre 2002 und weniger als 30, die 2003 entlassen werden sollen. Ein Faktor, warum die Anzahl der politischen Gefangenen nicht mehr so schnell abnimmt, sind die vielen tibetischen politischen Häftlinge, die Langzeitstrafen verbüßen. Die meisten davon befinden sich im Drapchi Gefängnis in Lhasa, wo etwa 60 Personen, also 40% aller Häftlinge, Haftstrafen von 10 Jahren oder mehr verbüßen. Indessen liegt die tatsächliche Zahl wahrscheinlich höher, denn TIN konnte für einige Berichte über langjährige Strafen keine Bestätigung bekommen. Den Unterlagen von TIN zufolge beträgt die Zahl der politischen Häftlinge mit Strafen von mehr als 10 Jahren, die in anderen Strafanstalten als Drapchi einsitzen, jetzt weniger als zehn.

Die relativ hohe Zahl der Gefangenen mit extrem langen Strafen ist hauptsächlich den Urteilsverlängerungen zuzuschreiben. Den Unterlagen von TIN zufolge wurden 21 der derzeitigen Gefangenen mit Verlängerungen bestraft, meistens als Folge der Proteste während des Flaggenappells in Drapchi im Mai 19982. Von den Häftlingen, deren Urteil verlängert wurde, befinden sich alle bis auf einen in Drapchi, und alle bis auf vier Ausnahmen haben Strafen von mehr als 10 Jahren zu verbüßen.

Im vergangenen Jahr kam es durch Mißhandlung im Gefängnis zu keinen bestätigten Todesfällen. Im November 2002 starb der Mönch Lobsang Dhargyal vom Kloster Ragya in einem Arbeitslager in der Nähe von Xining, der Hauptstadt von Qinghai, in dem hydroelektrisches Gerät hergestellt wird. TIN konnte die Ursache für seinen Tod noch nicht in Erfahrung bringen. Die frühere Mitteilung von TIN über den Tod eines anderen politischen Gefangenen hat sich inzwischen als unrichtig erwiesen. Karma Dawa, einer der Männer, die den Gefängnis-Protest vom Mai 1998 in Drapchi auslösten, wurde nicht hingerichtet, sondern mit einer Haftverlängerung bestraft; er entkam später aus dem Hospital und floh ins Exil. Nach den Aufzeichnungen von TIN kam es seit 1987 zu insgesamt 52 Todesfällen, wovon 40 unmittelbar auf Mißhandlung in der Haft zurückzuführen sind. Außerdem wurde berichtet, daß acht Gefangene nach ihrer Entlassung starben. Ihr Tod muß nicht unbedingt durch Folterung im Gefängnis verursacht worden sein, sondern könnte auch ihrem fortgeschrittenen Alter oder langem Siechtum zuzuschreiben sein. Es liegen drei weitere Berichte über Todesfälle im Gefängnis liegen vor, deren Ursachen noch der Klärung bedürfen. Auch wurde von einem Todesfall im Gefängnis berichtet, für den noch keine Bestätigung vorliegt.

Die nachstehende Liste zeigt, daß 71% der derzeitigen tibetischen politischen Gefangenen in der TAR und 27% in Regionen außerhalb der TAR beheimatet sind (eine weitere Liste zeigt die Verteilung der politischen Gefangenen nach ihrer Herkunft). Verglichen mit den Zahlen, die letztes Jahr in dem TIN-Bericht "Hostile Elements III" veröffentlicht wurden3, bedeutet dies eine kleine Verschiebung in Richtung TAR.

Die Studie zeigte, daß in dem Zeitraum von 1996 - 2001 64% der tibetischen politischen Gefangenen in der TAR ansässig waren und 36% in tibetischen Gebieten außerhalb der TAR. Die nachstehend genannten Zahlen könnten unvollständig sein, und nach bisher noch nicht veröffentlichten Informationen ist anzunehmen, daß bald weitere Fälle außerhalb der TAR noch dazukommen werden. Wenn dem tatsächlich so ist, dann wird das Verhältnis wahrscheinlich ähnlich dem 2002 von TIN ermittelten sein.

Wohnsitz der gegenwärtigen tibetischen politischen Gefangenen (basierend auf den Unterlagen von TIN vom Februar 2003)

In der TAR:

Lhasa (Lasa) 65
Chamdo (Qamdo) 21
Lhoka (Shannan) 4
Ngagchu (Naqu) 12
Shigatse (Rikaze) 4
Kongpo (Linzhi 0
Ngari (Ali) 0

Gesamt: 106 (71%)

Präfekturen außerhalb der TAR:

Kardze (Ganzi, Sichuan) 25
Ngaba (Aba, Sichuan) 9
Liangshan, Mili (Muli, Sichuan) 0
Kanlho (Gannan, Gansu) 1
Wuwei, Pari (Tianzhu, Gansu) 1
Tsoshar (Haidong, Qinghai) 2
Tsojang (Haibei, Qinghai) 0
Tsonub (Haixi, Qinghai) 0
Tsolho (Hainan, Qinghai) 1
Malho (Huangnan, Qinghai) 1
Golog (Guoluo, Qinghai) 1
Yushu (Yushu, Qinghai) 0
Siling (Xining, Qinghai) 0
Dechen (Diqing, Yunnan) 0

Gesamt: 40 (27%) / Insgesamt: TAR + Nicht-TAR: 149

Herkunft der tibetischen politischen Gefangenen zum gegenwärtigen Zeitpunkt (nach TIN-Unterlagen vom Februar 2003)

Präfekturen in der TAR:

Lhasa (Lasa) 54
Chamdo (Qamdo) 22
Lhoka (Shannan) 10
Nagchu (Naqu) 12
Shigatse (Rikaze) 7
Kongpo (Linzhi) 0
Ngari (Ali) 0

Gesamt: 105 (70%)

Präfekturen außerhalb der TAR:

Kardze (Ganzi, Sichuan) 25
Ngaba (Aba, Sichuan) 8
Liangshan, Mili (Muli, Sichuan) 0
Kanlho (Gannan, Gansu) 3
Wuwei, Pari (Tianzhu, Gansu) 1
Tsoshar (Haidong, Qinghai) 0
Tsojang (Haibei, Qinghai) 1
Tsonub (Haixi, Qinghai) 0
Tsolho (Hainan, Qinghai) 1
Malho (Huangnan, Qinghai) 1
Golog (Guoluo, Qinghai) 1
Yushu (Yushu, Qinghai) 2
Siling (Xining, Qinghai) 0
Dechen (Diqing, Yunnan) 0

Insgesamt: 43 (29%) / Insgesamt: TAR + Nicht-TAR: 149

Die meisten politischen Gefangenen sind weiterhin im Bezirk Lhasa (die Stadt Lhasa und die sieben angrenzenden Landkreise) konzentriert Wenn man von den TIN-Unterlagen ausgeht, so stammen 36% aller derzeit Inhaftierten ursprünglich aus dem Bezirk Lhasa, und 44% waren zu dem Zeitpunkt, als sie festgenommen wurden, dort wohnhaft. Die TAP Kardze (chin. Ganzi) tritt jedoch immer mehr in den Vordergrund, was politische Proteste und Verhaftungen betrifft, und kommt jetzt gleich nach dem Bezirk Lhasa. In der TAP Kardze wiederum sind die Distrikte Kardze und Nyagchu die Hauptschauplätze für Festnahmen und weisen die meisten politischen Gefangenen auf. Angrenzend an die TAP Kardze liegt in der TAR die Präfektur Chamdo, die im Hinblick auf politische Häftlinge an dritter Stelle steht.

Im Unterschied zur Häufung von politischen Protesten und Verhaftungen in den traditionell als Kham (die Präfekturen Chamdo und Kardze, sowie die nördlichen Distrikte Yunnans und ein kleiner Teil von Südost-Qinghai) bekannten tibetischen Gebieten kam es in den als Amdo bezeichneten tibetischen Gebieten (das meiste von Qinghai und Teile von Gansu und Sichuan) in letzter Zeit zu relativ wenig politischen Protesten. Nach den Unterlagen von TIN sind nur 15 politische Gefangene in Amdo ansässig, was weniger ist als die Gesamtzahl in der Präfektur Kardze, wo insgesamt 25 Personen politischer Vergehen wegen festgenommen wurden. Es gibt noch einige unbestätigte Berichte über weitere politische Festnahmen in der TAP Kardze.

Politische Festnahmen in den Jahren 2001-2002

Wenn die derzeitigen Zahlen von der Perspektive neuer Festnahmen aus betrachtet werden, trifft die scheinbare proportionale Verlagerung bei den Gefangenenzahlen auf den Bezirk Lhasa nicht mehr zu. Die in der folgenden Liste aufgeführten Daten könnten auf die Gesamtheit der politischen Gefangenen übertragen werden. "Bestätigte Fälle" sind solche, die TIN für glaubwürdig hält, "unbestätigte" sind solche, die noch weiterer Details oder einer Bestätigung bedürfen.

Präfekturen, in denen die 2001-2002 aus politischen Gründen festgenommen Tibeter wohnen:

Bestätigte Fälle:

Lhasa 7
Nagchu 1
Kardze 19
Ngaba 8
Golog 2

Gesamt 38

Unbestätigte Fälle (unter Ausschluß grenzübergreifender Fälle)

Lhasa 2
Shigatse 3
Kardze 1
Golog 8
Xining 1
Tsolho 1

Gesamt 16

Summe der bestätigten und unbestätigten Fälle:

Lhasa 9
Nagchu 1
Shigatse 3
Kardze 20
Ngaba 8
Golog 10
Xining 1
Tsolho 1

Gesamt 54

Diese Liste zeigt, daß die Hälfte aller bestätigten Festnahmen von 2001-2002 auf die TAP Kardze kommen, und fast drei Viertel auf die Provinz Sichuan als ganzes. Weniger als ein Viertel entfallen auf die TAR. Die neuerliche Zunahme politischer Verhaftungen in der TAP Kardze ist hauptsächlich auf die Verfolgung der Personen im Umfeld von Tenzin Deleg Rinpoche4 und auf die Verhaftung von Tibetern wegen der Durchführung von Langlebens-Zeremonien für den Dalai Lama im Distrikt Kardze zurückzuführen. Wenn man die bestätigten und unbestätigten Fälle für 2001-2002 zusammen betrachtet, dann kommen auf die TAR etwa ein Viertel aller politischen Häftlinge, auf Sichuan etwa die Hälfte und auf Qinghai ein Viertel.

Ob man nur die bestätigten Fälle für 2001-2002 oder sowohl die bestätigten als auch die unbestätigten nimmt, so ist die TAR durchaus nicht dominierend. In Sichuan, besonders in der TAP Kardze, gab es die meisten politischen Verhaftungen. Und was Qinghai betrifft, so scheint es, daß dort die TAP Golog, die sowohl an Kardze als auch an Ngaba in Sichuan grenzt, der Hauptschauplatz politischer Verhaftungen war. Über Gansu wurde nichts bekannt.

Anmerkungen

1 www.tibetinfo.net/publications/bbp/rukhag_3.htm

2 TIN News Update 14 Juni 2002 "New Reports on Tibetan prisoners following May 1998 Drapchi protests", www.tibetinfo.net/news-updates/2002/1406.htm

3 www.tibetinfo.net/publications/bbp/he3.htm

4 TIN News Update 27 January 2003 "Death sentences for sabotaging China's unity" and "Terrorism" http://www.tibetinfo.co.uk/news-updates/2003/2701.htm